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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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geschriebene Karte unleserlich. Eine Weile gelang es mir, die Illusion aufrechtzuerhalten, das Päckchen wäre von ARS.
    Ein Dankeschön. Ein Weihnachtsgruß. Ein Geschenk. Ich zündete Kerzen an, die, die auf meinem Schreibtisch und die, die auf dem Beistelltisch stehen, und diesmal sogar die langen geraden Stabkerzen im fünfarmigen Bodenleuchter. Von draußen muß es ausgesehen haben, als wolle ich mit all diesen Kerzen der Geister der Toten gedenken. Als sei ich am Ende doch noch gläubig geworden. Ich gab mir Mühe, auf der Karte etwas zu erkennen, ein Wort, einen Buchstaben, vielleicht wenigstens die Unterschrift. Aber der Regen war gründlich gewesen. Ich betrachtete lange das Motiv der Karte; eine alte Aufnahme des Berliner Fernsehturms von außen und daneben, als Detailaufnahme, rosa umrandet das Café in der Kugel zu Zeiten, als man dort, um hineinzukommen, noch stundenlang Schlange gestanden hat. Vielleicht hatte ARS mich einladen wollen.
    Am nächsten Morgen rief der Nachbar an. Sein Neffe habe ihm ein verfrühtes Nikolauspäckchen geschickt. Ob es gefunden worden sei.
    Es kann hier nur darum gehen, die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Weiterzumachen. Die Treppen hinunterzugehen, damit man sie am nächsten Tag wieder hinaufsteigen kann.

|81| Wir brauchen das in echt
    »Ich hab was für Sie, aber: cool bleiben.« Vor mir stand mein neuer Chef, 80   Prozent Baumwolle, 20   Prozent Polyester, alles für nur 59,95, draußen fing es an zu schneien. Er verschränkte die Arme hinter seinem nach der diesjährigen Wintermode gekleideten Rücken und sagte: »Frau Tieler, Sie kümmern sich in diesem Jahr um die Auferstehung.«
    Ich sah ihn an. »In vier Wochen ist Weihnachten!«
    »Eben.«
    »Das wäre nicht ganz bibelgetreu.«
    »Schon mal was von Marketing gehört«, sagte er, »von echten Hinguckern?«
    Als ich reglos sitzen blieb, knallte er mir einen Katalog auf den Tisch. »Konservatives Zeug«, sagte er. »Cyberspace, Technokids, Girlies im Sand, alle reden den gleichen Scheiß, alle tun sie den gleichen Scheiß, alle sehen immer gleich scheiße aus, oder würden Sie Klamotten tragen, in denen Sie aussehen wie Britney Spears, die Hungerharke? Gucken Sie sich das doch an!« Das war unnötig. Ich kannte alle Girlies im Sand, wußte die dazugehörigen Bestellnummern, alle Größen und Preise auswendig.
    »Ich will das richtig«, sagte er und schnalzte mit der |82| Zunge, »ich will die ganze Scheiße. Wahrheit, Schönheit, das Crescendo der Wirklichkeit von Anfang an. Und vergessen Sie Blut. Blut, Krieg und Politik fällt raus, das hat Benetton schon verkackt.« Er seufzte. »Was ich will, ist ein Wunder. Keine Schwulen, keine Soaps, nichts von wegen Dokudrama, das fehlte noch. Das einzige, worauf der Mensch heute noch zu reagieren imstande ist, ist Trost. Worauf ich also hinauswill: Wer in diesen Klamotten steckt, wird auferstehen. Sanft, aber in realistischen Farben. Klar? Gut. Dann zeigen Sie mir das. Ich will das in den Gesichtern, in den Körpern, im Sand meinetwegen, und noch was: Zeigen Sie mir vor allem das
Wie
. Und wenn ich mir Ihr
face
so angucke, sind Sie ja gemacht für so eine Auferstehung! Also. Dann klappen Sie Ihre Kinnlade mal wieder hoch und kümmern sich drum. Und keine Tricks, verstanden, von wegen aus’m Internet runterladen. Nee, Schätzchen!« Er trat dicht an mich heran und raunte mir ins Ohr: »Wir brauchen das in echt.«
    Er versprach mir, daß ich ansonsten im Januar auf der Straße sitzen würde,
Schätzchen
, auch in echt. Er trug die Unterlippe gepierct. Das Piercing zitterte.
    Ich sagte: »O.K.   Geht klar, Chef.«
    Der Laden lief schlecht. Seit Monaten schickten die Händler die Klamotten in Stapeln an uns zurück. Es war, als hätte jemand einen Gong geschlagen, und seitdem gingen die Leute nicht mehr einkaufen.
    Allerdings war die pragmatische Maschinerie, die mein alter Chef in diesen Fällen angeworfen hätte (
buy one, get one free
), offenbar einer sentimentalen Sehnsucht nach Erlösung gewichen. Der neue dachte, daß er nicht am Leben war, solange die alten Gepflogenheiten nicht zerlegt und durch kleine, vor Übersinnlichkeit phosphoreszierende Dateneinheiten ersetzt waren. Ich haßte ihn jetzt schon.
    |83| Beim Rausgehen blieb er noch einmal stehen und warf mir über die Schulter zu: »Wenn man das Kreuz anschaut, geht einem der Ozean nur bis ans Knie. Klar?«
    Diesmal vergaß er das Schätzchen und verschwand im Nebel wie eine ausgedachte Figur. Leider war er so wenig

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