Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
immer. Ich hatte nur einen kleinen Nikolausstiefel vorbereitet und eine einzige Kerze angezündet, es sollte eine Nacht voller neuer Ideen werden, geordneter Ideen, eine Nacht voller langsamer, geradliniger Gedanken, nachdem mein Bruder im letzten Jahr nicht alles verstanden hatte. Wir hatten wie immer unter dem Weihnachtsbaum gelegen, Eltern rechts, Kinder links, ich hatte gelesen, und als ich beim führerlosen Trabant angelangt war, hatten sich meine Eltern und mein Bruder ratlos angesehen und mir im Licht der künstlichen Baumkerzen dann vage Komplimente gemacht, denen anzumerken war, daß sie nicht stimmten. Auf die Ebene des Klamauk wollte sich niemand herablassen, schon gar nicht am Heiligen Abend.
»Deinen Weihnachtsspuk kannste dir stecken«, sagte meine Freundin vom Dorf am Telefon am Morgen des vierten Advent.
»Was?«
»Du und dein Bruder, deine ganze feine Familie. Such dir jemand anderen dafür. Mir reichts.«
|106| »Mir auch. Aber wieso redest du hochdeutsch.«
»Stell dir vor«, sagte sie. »Stell dir das mal vor. Daß ich so was kann, was, das hättest du nicht gedacht.«
»Aber wieso redest du dann sonst Slang?«
»Ich kultiviere das. Aber das hast du noch nie mitgekriegt, was? Du denkst, ich bin einfach nur eine, die sich jedes Jahr irgendeinen Quark für deine idiotischen Geschichten einfallen läßt und sich darin als Dialekt redende Hauptfigur lächerlich macht. Damit du es leichter hast.«
»Aber es ist nicht leicht.«
»Du denkst, ich laß mich einfach ausbeuten, während die feine Lady sich lieber anderweitig vergnügt. Pralinen futtern, ja?«
»Aber du hast es doch gern gemacht.«
»Oh ja, ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als von dir an der langen Leine gehalten zu werden.«
»Was denn für eine Leine? Und Pralinen finde ich eklig, das weißt du doch.«
»Vergiß es. Glaub einfach weiter, daß ich immer für dich da bin. Daß ich auch immer für andere das Maul aufreiße. Weil es ja sonst keiner macht. Weil die anderen lieber ihre Klappe halten. Das glaubst du doch, oder? Das eine wie ich das so macht. Nur ist es ja so: Die, die das Maul aufreißt, kriegt am Ende alles ab, nicht die anderen. Für die anderen hat man dann eben Pech gehabt.«
»Was meinst du denn mit abkriegen?«
»Was weiß ich. Strafversetzt in die Produktion. Gemobbt am Arbeitsplatz, wie man heute dazu sagt.«
»Aber wir haben doch Redefreiheit. Dafür haben wir gekämpft!«
Sie atmete durch. »Du hast die Wahrheit auch gepachtet, oder?«
Ein Chor ging bei ihr im Hintergrund vorbei und sang.
|107| »Ich nehme gerade die Gans aus«, sagte ich. »Vielleicht telefonieren wir später nochmal.«
»Du holst die gun raus?« sagte meine Freundin. »Klar. Wenn sie nicht weiterwissen, holen sie alle die gun raus.« Ich legte auf und spülte meine blutigen Hände, die eigentlich sauber waren. Es handelte sich bei meinen Vorbereitungen bloß um Ragout, aber manchmal muß man für die eigene Glaubwürdigkeit etwas tun.
Ich weiß nicht, worauf dieses Gespräch hinausgelaufen wäre. Ich wußte nicht, in welcher Stimmung ich sie gerade gestört hatte. Vielleicht war ihr unsere wilde Fahrt im letzten Jahr ebenso auf die Nerven gegangen wie unterm Weihnachtsbaum meinem Bruder. Vielleicht war auch ihr der Klamauk aufs Gemüt geschlagen, und sie wollte sich jetzt davon distanzieren. Wir hatten beide fast zwölf Monate gehabt, uns damit auseinanderzusetzen. Jede für sich. Wir hatten uns das ganze Jahr über nicht gesehen. Sie hatte versucht, im Handy-Geschäft unterzukommen, wahrscheinlich bei ihrem finnischen Bekannten, ich hatte freiberuflich Doktorarbeiten und Baugutachten getippt.
Vielleicht wollte sie sich aber gar nicht vom Klamauk, sondern von mir distanzieren. Ein Gedanke, der mich in Panik versetzte.
Mußte sie nicht monatelang darauf gewartet haben, daß ich anrief, während ich darauf wartete, daß sie anrief, wodurch das Warten auf beiden Seiten immer länger geworden war? Es war so lang geworden, daß es schließlich für jede von uns so aussehen mußte, als würden wir absichtlich nicht angerufen werden; ein Vorwurf, der sich mit dem Schuldgefühl verband, selbst nicht angerufen zu haben, vor allem nicht rechtzeitig angerufen zu haben, was sich hochspulte zu einer handfesten Wut, weil sie nicht anrief, wenn ich schon nicht anrief, und es schließlich unmöglich |108| machte, sich überhaupt noch anzurufen, und zwar nicht, weil die Anrufende diejenige gewesen wäre, die aufgab und den Fehler
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