Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
eingestand, sondern weil sie die bessere Position gehabt hätte. Denn die, die zuerst anrufen würde, hätte auch die Chance, als erste um Verzeihung zu bitten. Damit hätte sie bei der anderen etwas gut, die nun ihrerseits nicht mehr in die Lage glücklicher Verzeihung kam, sondern statt dessen erneut Schuldgefühle fühlen mußte. Und wir mochten uns dann doch zu sehr, um einander diese gute Position streitig zu machen, was das Warten nochmal verkomplizierte, es hochgeschaukelt und um weitere Wochen verlängert hatte. In diesem Jahr hatten wir es beide übertrieben.
Vielleicht war es das.
Eine Stunde später saß ich in der S-Bahn . Es war der einundzwanzigste Dezember. An solchen Tagen gehe ich eigentlich nicht mehr aus dem Haus. Einladungen sage ich ab, Kinobesuche verschiebe ich aufs nächste Jahr.
Meine Einkäufe sind dann bereits erledigt, und erst zu Heiligabend fahre ich mittags im verstopften Aiport Express zu meinen Eltern. Meine Freundin vom Dorf ist noch konsequenter als ich. Sie geht bis zum siebenundzwanzigsten nicht mehr vor die Tür. Sie stellt die Klingel ab. Sie weiß, was sie tut. Einmal hat einer von den Studentenweihnachtsmännern bei ihr geklopft, und weil sie ein Ebay-Päckchen erwartete, hat sie ihm versehentlich geöffnet.
»Guten Tag«, sagte er und hob eine Büchse, »wir wollen hilfsbedürftigen alten Leuten in der Nachbarschaft ein bißchen unter die Arme greifen und –« Weiter kam er nicht.
»Ach, dit iss ja total klasse«, rief sie und strahlte ihn an. »Ick bin vierundsechzig und hab die Mindestrente. Wieviel krieg ick denn?«
|109| Ich wollte sie sehen. Ich wollte dieses Jahr nicht ohne sie ziehen lassen. Außerdem mußte die nächste Geschichte dringend geschrieben werden.
Am Potsdamer Platz war ich gezwungen umzusteigen. Es gab Schienenersatzverkehr, Busse sollten uns zur Station Unter den Linden bringen. Der Schnee wirbelte vom Himmel und wurde so dicht, daß er aufwärts zu wehen schien. Die Fußspuren der Leute hatten feuchte, matschige Ränder. Die Regenrinnen entwickelten am Rohrausgang bizarre Zapfen.
Nirgendwo stand ein Bus, und ich fror.
Nun ist diese Stadt sehr groß. Auch wenn man in einem Schneetreiben nicht mehr diesen Eindruck hat. Zu Fuß mußte ich über die eisige Fläche zwischen den Baustellen hindurch, wo Kranmasten im Wind schwankten, Leitungen klapperten und Fetzen von Kaufhausmusik aus den Boxen am Sony Center über die verlorenen Dominosteine eines sich ebenfalls im Bau befindlichen Denkmals wehten, ein zwanzigminütiger Marsch, um dann von Unter den Linden nach Pankow fahren zu können, wo meine Freundin im Augenblick wohnte. Ich ging los. Mir blieb nichts anderes übrig. Auch Taxis fuhren nicht mehr.
Vor dem Starbucks saßen trotz des Schnees ein paar Taschenspieler. Sie waren kaum zu erkennen, der Schnee auf ihren Jacken und Haaren entzog ihnen alle Farbe. Die Lichter waren trübe und matt, und aus dem Trüben fischte ich einen roten, mit Zweigen geschmückten LKW, der ein paar Meter weiter auf der Straße stand.
Die Ladefläche war geöffnet. Man lud Menschen auf. Sie wurden aufs Trittbrett gehievt und dann nach oben geschubst. Zwei Männer, mit Müllsäcken bekleidet und Bart. Eine Frau. Sie hatte mit einer Flasche in einer Packpapiertüte in der Hand auf einem Geländer gehockt. Eine |110| jüngere Frau, die bis auf ihre gescheckten Pantalons ohne ersichtliche Auffälligkeiten war. Es schien, als würde alles verladen, was nicht in Bewegung war. Vier Jungs in schäbigen Jacken, ein alter Mann, der vor sich hinsingend auf einem Stein gesessen hatte, schließlich die beiden Taschenspieler.
Und meine Freundin war da. Sie stand neben den Fahrradständern. Ich erkannte sie an ihrem dicken, lilafarbenen Schal und am Zipfel der blauen Mütze. »Hey!« rief ich froh in den wirbelnden Schnee, ein Ruf, der nicht einmal mir zu Ohren kam. Sie hatte genau wie ich nach dem Telefonat keine Sekunde gezögert. Sie mußte zu Fuß von Unter den Linden in meine Richtung unterwegs gewesen sein. Im Schneetreiben hatte sie den S-Bahn -Eingang vielleicht nicht gleich gefunden und die Orientierung verloren, weshalb sie reglos da stand und suchend um sich sah, und in wenigen Sekunden wäre das Mißverständnis aufgeklärt, und wir kämen doch noch zu mir nach Hause und versöhnten uns beim Ragout.
Der Schnee drang mir in die Augen und massierte die Gesichtshaut ordentlich durch, und ich hatte meine Freundin fast erreicht, als jemand nach ihrem Arm griff und sie
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