Vom Finden der Liebe und anderen Dingen (German Edition)
dramatisch müssen wir ja nicht sein«, sagte er. »Es ist gar nicht so traurig.«
»Warum denn nicht?«
»Wenn ich weitergelebt hätte, wäre ich womöglich alt geworden und hätte ständig schreckliche Rückenschmerzen und eine Augeninfektion oder so was gehabt. Ich hatte das Glück, aus der Welt auszubrechen, ohne je etwas mit der Gesundheitsindustrie zu tun gehabt zu haben.«
»Wie ist es denn, tot zu sein?«
»Wenn ein Fisch gefangen und wieder reingeworfen wird, was sagt er dann den anderen Fischen?«
»Ein Fisch?«
»Er könnte niemals erklären, was er gesehen hat. Und wenn er’s könnte, würden sie ihm nicht glauben.«
Ich wurde aus dem, was Alvin da sagte, überhaupt nicht schlau. »Was machst du denn jetzt?«, fragte ich ihn.
»Ach, mach dir wegen mir mal keine Sorgen. Ich kann überallhin, wo ich will, ich muss nicht arbeiten, und keiner kann mir sagen, was ich zu tun habe. Endlich bin ich vollkommen frei. Wahrscheinlich besuche ich Gegenden, von denen du noch nie gehört hast. Vielleicht segle ich ja doch um die Welt. Das heißt, wenn mir danach ist.«
»Aber du kommst immer wieder und sprichst mit mir.«
»Klar doch. Wenn ich Zeit habe. Aber schaust du jetzt mal in den Himmel? So gut konntest du die Sterne in Los Angeles nicht sehen.«
Der Himmel war an dem Abend unglaublich klar, und Alvin zeigte auf verschiedene Sterngruppen und erklärte mir, um welche Bilder es sich handelte. Ich weiß noch, dass ein Drache dabei war, an die anderen erinnere ich mich nicht mehr.
»Ich habe gerade versucht, dir einen Vortrag über den Weltraum zu halten«, sagte er. »Also dürfte ich so zwölf, dreizehn sein. In diesem Alter liest man als Junge ein populäres Physikbuch und kann sich dann in ein richtiges Fieber reinsteigern, einfach, indem man darüber nachgrübelt, wie klein man ist verglichen mit den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die schiere Intensität meiner Träume und Ambitionen in diesem Alter genügte manchmal, dass ich weinen musste.«
»Weinst du jetzt auch gleich?«
»Nein, weil du dann auch damit anfängst.«
»Mir ist es egal, wenn du es musst.«
»Dem setze ich dich jetzt nicht aus. Ich verschone dich.« Eine Wolke zog über uns hinweg. Alvin seufzte hinauf, dorthin, wo eben noch die Sterne gewesen waren. »Wie lange ist es wohl her, seit ich gestorben bin?«
»Bloß ein paar Wochen, würde ich sagen.«
»Jeder sollte diese Empfindung einmal ausprobieren dürfen. Man behält den Blickwinkel des Alters, in dem man gestorben ist, aber man spürt, wie es ist, wieder jünger zu sein.« Er rieb sich die Wangen und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Das Rasieren war so grässlich. Ich bin wirklich froh, dass das für immer vorbei ist, und ich merke auch, dass ich jetzt ein bisschen besser sehen kann. Ich kann die Pool-Vorschriften von hier aus lesen. Erinnerst du dich an was aus diesem Alter?«
»Im Moment nicht.«
»Ich habe dich wie einen Hund behandelt«, sagte er. »Warum hast du dir das gefallen lassen?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat es mich nicht so besonders gestört.«
»Ich reite bloß deshalb so drauf rum, weil es das Schlimmste ist, was ich je getan habe. Aber jetzt sollten wir mal über dich sprechen. Was machst du denn hier? Es ist so gar nicht deine Art, in einem Pool rumzuplanschen.«
»Houston bringt’s mir bei.«
»Das ist ziemlich nett von ihm.«
»Wir werden Freunde.«
»Schön für dich, Joe. Jeder hat Glück, wenn er wenigstens einen Freund hat, was bei mir ja nicht der Fall war. Wem gehört eigentlich der unglaubliche Anzug, der da überm Stuhl hängt?«
»Mir. Ich hab ihn für das Vorstellungsgespräch gekriegt.«
»Das ist ja ganz hervorragend. Nichts sagt mehr über einen aus als ein gut sitzender Anzug. Das ist ein ganz wichtiges Konzept. Aber früher hast du doch nie einen Anzug getragen. Was ist los, Joe?«
»Das ist irgendwie ein Geheimnis. Soll ich dir das wirklich erzählen?«
»Du sollst es mir auf der Stelle erzählen.«
»Na gut. Ich habe mich verliebt.«
»Das ist ja irre. Du hast dich in Julia verliebt?«
»Ja.«
»Schön für dich, Joe. Das ist schön zu hören.«
»Du bist nicht sauer?«
»Was für eine lächerliche Frage«, sagte Alvin. »Du verstehst meinen Standpunkt in dieser Sache einfach nicht.« Er stand auf, stellte sich auf die Kante des Sprungbretts, wippte auf und nieder und sah mich dabei an. Er breitete die Arme aus. Wie er da über mir aufragte und die Wolken über ihm dahinjagten und hinter den Wolken die
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