Vom Himmel hoch
eine
zusammengerollte Zeitung und folgte den beiden Beamten. Ohne Aufforderung
begann er zu berichten: »Mein Großvater lebt seit vielen Jahren im Altersheim
in Højer, das ist eine kleine Stadt gleich hinter der Grenze. Er ist vorgestern
neunzig Jahre alt geworden. Hier!«
Zum Beweis rollte er eine dänische Tageszeitung aus.
Christoph verglich das Erscheinungsdatum. Es passte.
Der Däne blätterte kurz in der »Sønderjyllands Avisen«
und blieb mit dem Zeigefinger auf einem Artikel hängen.
»Hier ist es.«
Das Bild zeigte einen rüstigen älteren Herrn mit
schlohweißem Haar und wettergegerbtem Gesicht.
Christoph überflog den Artikel und reimte sich
zusammen, dass der abgebildete pensionierte Oberlehrer Børge Friits Sørensen
seinen runden Geburtstag im Kreise einer großen Familie und vieler Freunde
gefeiert hatte.
Sørensen berichtete vom Brauch im Nachbarland, zu den
Festen langjährige Nachbarn einzuladen. Und als Oberlehrer, der jahrzehntelang
in der kleinen Stadt gewirkt hatte, die nach deutschen Maßstäben eher ein Dorf
war, würde praktisch jeder seinen Großvater kennen. Nicht nur die Delegation
der Gemeindeverwaltung, auch der örtliche Spielmannszug, der Sportverein, der
Kirchenvorstand und was es sonst noch an bedeutsamen Institutionen gab, wären
auf den Beinen gewesen.
Die Familie hätte schon ein wenig Sorge um ihren
Ältesten gehabt, der bereits am Vormittag die ersten Ständchen über sich
ergehen lassen musste.
Am Nachmittag habe es die große Kuchentafel gegeben,
der das typische dänische Festmahl folgte, jene Mischung aus zahlreichen
hintereinander folgenden Gängen mit kaltem und warmem Fisch, kaltem und warmem
Fleisch, die geliebte süße Dessertauswahl nicht zu vergessen. Der Tradition
entsprechend wäre das große Ereignis dann um Mitternacht mit Kaffee und Kuchen
satt abgeschlossen worden.
»Das können Sie nur überleben, wenn Sie zwischendurch
in rechten Maßen zum richtigen Zeitpunkt Ihr Innenleben mit einem Aquavit
beruhigen«, schloss der blonde Mann seinen schwärmerischen Bericht. »Und
deshalb habe ich mir für den folgenden Tag Urlaub genommen.«
»Haben Sie auch etwas von dem Gewitter mitbekommen?«,
fragte Christoph.
Der Däne nickte. »Bei uns ist es allerdings erst etwas
später aufgetreten. Es war bereits nach Mitternacht, als sich die ersten Gäste
verabschiedeten.«
»Ihre Anwesenheit können bestimmt einige Leute
bezeugen?«, wollte Christoph wissen.
Der Mann lachte auf. Dann sprudelte unaufgefordert
eine Kette dänischer Namen aus seinem Mund, immer mit Beruf oder Stellung
verbunden.
»Sie können natürlich nicht einfach über die Grenze
fahren und die Leute befragen«, meinte er. »Wenn Sie möchten, suchen wir einige
davon zusammen auf, und Sie können Ihre Fragen direkt stellen. Wir Dänen sind
nicht nur hilfsbereit, sondern bei uns versteht auch jeder Deutsch«, schloss er
mit einem kleinen Seitenhieb auf Christoph, der sich zuvor beim Studium der
Zeitung schwer getan hatte.
»Das Angebot nehmen wir gern an«, erwiderte Christoph
und zeigte auf Große Jäger. »Mein Kollege würde auf rein informeller Basis gern
einige Ihrer Landsleute kennen lernen.«
Dabei ignorierte Christoph die hochgezogenen
Augenbrauen des Oberkommissars, welche die große Begeisterung über diesen
Auftrag ausdrückten.
Als Nächste baten sie noch einmal Doris Landwehr zum
Gespräch. Die Frau hielt eine brennende Zigarette in der Hand, entschuldigte
sich aber dafür.
»Wir suchen immer noch Davor Bardolic«, sagte
Christoph zu ihr.
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass er ordnungsgemäß
Urlaub beantragt hat. Sein Verhalten war einwandfrei. Wie immer«, fügte sie
hinzu.
»Haben Sie eine Idee, wo wir ihn finden könnten?«,
bohrte Christoph nach.
»Bardolic ist ein schweigsamer Mensch. Das mag daran
liegen, dass er Verständigungsprobleme hat. Er beherrscht Deutsch nur in dem
Maße, um damit im Alltag durchzukommen. Hier im Betrieb hat er kaum mit
jemandem gesprochen, da er ja meistens mit seinem Fahrzeug auf den Baustellen
unterwegs war.«
»Wie verständigt er sich denn auf den Baustellen mit
den anderen?« Große Jäger sah sie interessiert an.
Sie zog an ihrer Zigarette, ließ die Glut aufglimmen,
blies dann den blauen Dunst in eine den beiden Beamten abgewandte Richtung und
entgegnete ruhig: »Da gibt es nirgendwo Probleme. Dort herrscht Multikulti.
Irgendwie verständigt man sich. Und wenn es über die Worte nicht klappt, dann
regelt man es über die Lautstärke
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