Vom Mondlicht berührt
etwas Geduld mit mir.
I n der folgenden Woche war Vincent zu sehr mit seinem Experiment beschäftigt, um Zeit mit mir zu verbringen. An den wenigen Tagen, an denen wir es bisher nicht geschafft hatten, uns zu treffen, telefonierten wir abends und erzählten uns ausführlich, was wir gemacht hatten.
Doch nun ließ er immer mal wieder Kleinigkeiten aus. Aber seit unserer Aussprache machte mir das nicht ganz so viel aus. Und weil er ja um meinen Segen gebeten hatte, fiel es mir leichter, ihn zu unterstützen. Trotzdem war ich besorgt. Denn was immer er da tat, es ging nicht spurlos an ihm vorüber. Seine sonst so frische, dunkle Haut war blass geworden und unter seinen Augen hatten sich Ringe gebildet. Er war so erschöpft und in Gedanken versunken, dass ich, selbst wenn er neben mir saß, das Gefühl hatte, er war gar nicht richtig da.
Gleichzeitig konnte ich mich nicht darüber beklagen, dass er sich weniger liebevoll verhalten hätte. Im Gegenteil, er gab sich umso mehr Mühe. Als wollte er das alles wiedergutmachen.
»Vincent, du siehst furchtbar aus«, sagte ich endlich eines Morgens.
»Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann«, war seine simple Antwort.
Doch nach weiteren anderthalb Wochen, in denen er zusehends schwächer und schwächer wurde, war meine Geduld am Ende. Ich wollte Vincent nicht zwingen, mir mehr Informationen zu geben, weil ihn das nur noch mehr belastet hätte. Aus Jules und Gaspard würde ich offensichtlich auch nichts herauskitzeln können, doch das hieß ja nicht, dass ich es nicht mal bei Violette versuchen konnte.
Seit ihrem ersten Kontakt mit dem Kino hatten Violette und ich einige weitere Filme zusammen angeschaut, jedes Mal auf ihre Initiative hin. Ein paar Tage nach unserer ersten Verabredung schickte sie mir einen Strauß blauer und rotfarbener Blumen, zusammen mit der aktuellen Ausgabe des Pariscope und dem Hinweis, Seite siebenunddreißig aufzuschlagen. Dort befand sich eine Übersicht der aktuell laufenden Kinofilme. Gespannt kramte ich das Blumenlexikon aus meiner Tasche.
Die blaue Blume war Eisenhut und stand für »Gefahr«. Die kleinen rotfarbigen Blüten gehörten einer Blume namens Gauchheil und hießen: »Ich erwarte ein Stelldichein.« Gefahr? Stelldichein? Ich ging die Liste der Kinofilme durch und fand auf der Mitte der Seite Gefährliche Liebschaften. Es wird das erste Mal sein, dass das Wörterbuch der Blumen dazu verwendet wird, Filmtitel zu entschlüsseln, dachte ich grinsend und wählte Violettes Telefonnummer.
Violette kicherte während des gesamten Films und kommentierte immer wieder, dass Kleidung oder Verhalten der Darsteller völlig falsch wiedergegeben wurden, was uns ein paar böse Seitenblicke der anderen Kinobesucher einbrachte.
Nachdem ich sie davon überzeugt hatte, dass man im Kino nicht laut sprechen darf (»Aber wir sind doch nicht in der Oper«, hatte sie zunächst empört eingeworfen), hatte sie sich gefügt und an den entsprechenden Stellen nur noch leise gelacht und den Kopf geschüttelt. Als ich nach dem Film etwas über die Boshaftigkeit der Figuren sagte, lachte Violette nur und erwiderte: »Ein sehr gutes Beispiel für Umgangsformen zu Hofe.«
Ein paar Tage später erreichte mich ein Strauß mit Gemeiner Nachtkerze (Nacht), Luzerne (Leben) und Goldwurz (Meine Trauer folgt dir in das Grab). Ich verbrachte eine geschlagene halbe Stunde damit, im Blumenlexikon und der Filmübersicht hin- und herzublättern. Als mir endlich klar wurde, was Violette meinte, fiel mir die Kinnlade runter. Diese kindliche Revenantdame hatte als nächsten Film doch tatsächlich Die Nacht der lebenden Toten vorgeschlagen – den berühmtesten Zombiefilm aller Zeiten.
Irgendwie wurde es unsere Gewohnheit, nach den Kinobesuchen noch in ein Café zu gehen. Dort quatschten wir dann allerdings nicht einfach drauflos, sondern die Unterhaltungen fühlten sich eher an wie Besprechungen, weil Violette sich nie wirklich entspannen konnte. Sie war grundsätzlich hoch konzentriert und hörte mir so aufmerksam zu, dass mich das anfangs fürchterlich einschüchterte. Ich gewöhnte mich zwar allmählich daran, schaffte es aber auch, dass Violette locker genug wurde, über sich selbst zu lachen – und mir das Du anzubieten.
Violette konnte gar nicht genug bekommen von Geschichten über Vincent und mich. Anfangs erzählte ich noch ein wenig verhalten. Doch schließlich erkannte ich, dass hinter ihrer Neugierde keine merkwürdige, voyeuristische
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