Vom Mondlicht berührt
machte. Ihr Interesse an Arthur war sicher nur eine ganz normale Schwärmerei für den eigenen Lebensretter. So wie ich Georgia kannte, würde sie ihn zur Mittagszeit schon wieder vergessen haben.
Vincent und ich saßen nebeneinander und starrten auf die übertrieben grausam dargestellte Szene in Gericaults berühmtem Gemälde Das Floß der Medusa. Vincent hatte mich überzeugt, ihn trotz Wochenende und dem deshalb entsprechend hohen Besucherandrang in den Louvre mitzunehmen. »Ich möchte, dass du mir etwas über Kunst beibringst, damit ich verstehe, wieso sie dich so bewegt«, hatte er gesagt. Das fand ich dermaßen romantisch, dass ich ihn, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, am Arm gepackt und Richtung Museum gezogen hatte.
Wir saßen in einem meiner Lieblingsräume. Hier hingen historische, melodramatische Gemälde auf Leinwänden so groß wie Doppelbetten. Die beeindruckende Szene vor uns wirkte sonderbar passend als Kulisse für ein Gespräch, das sich um die Superkräfte von Untoten drehte.
»Erklärst du mir diese Energieübertragungsgeschichte?«, fragte ich.
»Energieübertragung?«, wiederholte Vincent verwirrt. Seine Augen waren konzentriert auf das Gemälde vor uns gerichtet; er schien es mit persönlichem Ehrgeiz zu betrachten. Die verwesenden Leichen interessierten ihn nicht – seine Aufmerksamkeit galt ganz den lebenden Personen. Bestimmt überlegte er, wie viele von ihnen er auf einen Schlag retten könnte.
»Ja, Jules hat gestern Abend davon gesprochen. Er meinte, dass Georgia irgendwie schwach sein würde, weil Arthur ihre Energie bekommt. Wie genau läuft das denn?«
Vincent löste widerstrebend den Blick von der Leinwand. »Du weiß ja, wieso wir für Menschen sterben, nicht wahr?«
»Abgesehen von der Güte eurer nicht schlagenden Herzen?«, witzelte ich. Vincent nahm meine Hand und legte sie auf seine Brust. »Also gut, eurer schlagenden, untoten Herzen«, korrigierte ich mich und zog widerwillig meine Hand weg. »Wenn ihr für jemanden sterbt, wird euer Körper in den Zustand zurückversetzt, den er hatte, als ihr das erste Mal gestorben seid. Eigentlich dient der Drang zum Sterben ja lediglich dem Erhalt eurer Unsterblichkeit, oder?«
»Ja, genau«, sagte Vincent. »Aber du weißt auch, dass wir nur gelegentlich sterben – wenn kein Krieg herrscht, vielleicht nur einmal pro Jahr. Und es geht für uns ja nicht jedes Mal tödlich aus, wenn wir einen Menschen retten. Warum sollten wir unser unsterbliches Dasein damit verbringen, über euch Menschen zu wachen, wenn es dafür nicht einen soliden Anreiz gäbe? Was immer du bisher von Superhelden gehört hast, keiner von ihnen hat die menschliche Rasse aus purer Nächstenliebe gerettet.«
Ich musste sofort an Violette denken. Arthur und sie waren erst mit sechzig wieder für jemanden gestorben und auch nur, weil Jean-Baptiste ihre Hilfe brauchte. Das wirkte gelinde gesagt nicht gerade so, als würden sie ihren Job lieben.
Vincent drehte sich nun ganz zu mir und verschränkte seine Finger mit meinen. »Stell dir einfach mal bildlich vor, dass jeder Lebensenergie in sich trägt.«
Ich nickte und stellte mir vor, dass jeder Tourist hier im Raum eine leuchtende Wolke in sich hatte.
»Jemand, der eine Nahtoderfahrung macht, erleidet mitunter einen posttraumatischen Schock, richtig? In dem Fall wird ihm ein Teil seiner Lebensenergie vorübergehend ausgesaugt.«
Das erinnerte mich an meinen beinahe tödlichen Unfall letztes Jahr und ich sagte: »Nachdem mich damals dieses Fassadenteil fast erschlagen hat, war ich ein paar Tage lang ziemlich müde und fertig.«
»Genau«, sagte Vincent. »Wenn ein Revenant für die Rettung verantwortlich ist, dann bekommt er die Kraft, die dem Beinaheopfer im übertragenen Sinne ausgesaugt wird. Und zwar so lange, bis das Opfer sich erholt hat. Also manchmal nur ein paar Stunden, manchmal ein paar Tage lang.«
Ich ließ mir das ein paar Minuten lang durch den Kopf gehen und starrte ihn dann überrascht an. »Als Charlotte und du mich gerettet habt, habt ihr auch meine Lebenskraft bekommen? Und Arthur bekommt gerade Georgias?«
Vincent nickte.
»Und was war mit dem Mädchen, das letztens fast von dem Laster überfahren wurde? Ich habe sie danach am Straßenrand sitzen sehen, sie stand unter Schock.«
»Dank ihr konnte ich aufstehen und vom Unfallort weggehen«, bestätigte er. »Eine Energieübertragung wirkt wie ein Verstärker. Muskeln, Haare, Nägel, alles läuft auf Hochtouren. Es ist wie ein
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