Vom Schicksal bestimmt: Soul Seeker 1 - Roman (German Edition)
das Nachtlicht abzugewöhnen. Dasselbe habe auch ich mir gesagt, als ich Vane in diese verlassene marokkanische Gasse gefolgt bin. In beiden Fällen hat es geholfen, meine Ängste zu bezwingen – also wird es hier hoffentlich auch funktionieren.
»Die weiße Linie schützt dich und sorgt dafür, dass keine Eindringlinge hereinkommen können. Aber denk daran, Daire, du bist nur sicher, solange du in der Höhle bleibst. Wenn du hinausgehst, wenn du dich herauslocken lässt, ehe der richtige Zeitpunkt gekommen ist, dann ist für nichts mehr garantiert.«
Ich nicke und sehe zu, wie er die Grenzlinie mit frischem Salz nachzieht. »Du schaffst das«, sagt er zum Abschied. Ich klammere mich an seine Worte, während er den Weg bergab verschwindet und ich mich allein der Finsternis stellen muss.
Neunzehn
I ch stehe unschlüssig am Eingang – die Fußspitzen auf der rechten, der sicheren Seite dieser weißen Grenzlinie. Das Herz springt fast aus meiner Brust, als eine Klapperschlange vorbeigleitet, die mir nicht die geringste Beachtung schenkt. Kurz darauf sehe ich fasziniert zu, wie ihr ein Skorpion folgt.
Tja, es funktioniert bei Reptilien und Spinnentieren. Hoffen wir mal, dass es auch bei größeren Tieren funktioniert – wie zum Beispiel bei warmblütigen, Fleisch fressenden Säugetieren.
Erst als die Sonne so hoch gestiegen ist, dass sie mitten am Himmel steht, wage ich mich weiter hinein. Die glatten Höhlenwände werden immer enger, und die Decke senkt sich herab, bis sie schließlich an einem Punkt auf den Boden trifft.
Die Höhle ist nicht annähernd so groß, wie ich dachte.
Und sie ist auch nicht so beängstigend.
Das ist doch positiv, oder nicht?
Auf den ersten Blick scheint sie nichts Besonderes an sich zu haben. Sie sieht aus wie alle anderen Höhlen, die ich im Fernsehen oder im Kino gesehen habe, abgesehen davon, dass Kampfszenen mit prähistorischen Strichmännchen fehlen.
Doch als ich mich genauer umsehe, erkenne ich, dass ich mich geirrt habe. Es gibt ein paar Kritzeleien auf dem hinteren Teil der Wand, die ich auf den ersten Blick übersehen habe. Eine lange Liste von Namen, die meine Vorfahren hier hinterlassen haben.
Jeder von ihnen hat seinen Vor- und Nachnamen aufgeschrieben,
ergänzt durch die Zeichnung eines Tiers daneben, das ihnen als Führer gedient hat.
Valentina Santos – ihr Name steht am höchstmöglichen Punkt, an der Stelle, wo die Wand in die Decke übergeht. Ihre Schrift ist blass und eckig, und direkt daneben ist ein detailliert gezeichneter Waschbär mit dunklen Augen zu sehen.
Der nächste ist Esperanto Santos, und neben seinem Namen ist eine große Fledermaus.
Piann Santos wurde von einem Fuchs geführt – der Kreide nach zu urteilen, die sie benutzt hat, einem roten Fuchs. Mayra Santos dagegen wurde entweder von einem Leoparden oder einem Geparden begleitet – aber sie war keine große Künstlerin, daher kann ich es nicht sicher sagen.
Darunter folgen noch etliche weitere Namen – Maria, Diego und Gabriela, die von einem Pferd, einem Affen beziehungsweise einem Eichhörnchen begleitet wurden. Und da, ziemlich weit unten an der Wand, entdecke ich Palomas markante Schrift mit den großen Schlingen, begleitet von einem weißen Wolf mit durchdringenden blauen Augen, den sie akkurat und detailreich wiedergegeben hat.
Ich bin verblüfft über den Umfang dessen, was ich hier in Wirklichkeit vor mir habe: Familie.
Meine Familie.
Eine lange Reihe von Ahnen – männliche und weibliche –, die die gleiche Tortur überlebt haben, die ich soeben erst begonnen habe. (Also, ich nehme jedenfalls an, dass sie überlebt haben.)
Offenbar bin ich so daran gewöhnt, eine Einzelgängerin zu sein, bin so vertraut mit Jennikas und meinem abgeschiedenen Dasein, dass ich mir nie klargemacht habe, dass es noch eine ganz andere Seite gibt, jenseits von meiner verschrobenen Mutter, einem Schwarz-Weiß-Foto meines lange verstorbenen
Dads und ein paar vereinzelten Geschichten über Großeltern, die, lange bevor ich alt genug war, um einen nachhaltigen Eindruck von ihnen zu gewinnen, umgekommen sind.
Das hier ist viel, viel größer, als ich dachte.
So viel größer als die Aufgabe, meine Prüfungen zu bestehen und meine Ausbildung als Suchende erfolgreich abzuschließen.
Ich bin eine Santos.
Teil einer umfangreichen und langjährigen Ahnenreihe.
Eines Rufs, der viele Jahrhunderte zurückreicht.
Und nun ist es an der Zeit, meinen Namen hinzuzufügen, den mir gebührenden
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