Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
you.«.
Heute ist es mal wieder so
heiß, dass die Wäsche schon während des Aufhängens trocknet. Die
Terrassenaussicht ist fantastisch, und am liebsten würde ich mich dazuhängen.
Marcos hat eine bessere und zugegebenermaßen elegantere Idee: »Lass uns mal
sehen, was die Stadt zu bieten hat.«
Gill ist nach ihren ersten
beiden Wandertagen völlig geschafft und legt sich schlafen. Bevor sie ins Land
der Camino-Träume schwebt, murmelt sie noch: »Ich komme nach, bis später.«
Ich bin mir nicht sicher, ob
wir sie hier mit dem Denker alleinlassen sollten. Da sich aber zwei Zeugen im
Raum befinden, die Simon genauso argwöhnisch betrachten wie ich (ich nehme malan, sie kennen ihn bereits), denke ich, dass wir den Raum ruhigen Gewissens
verlassen können. Bevor Marcos und ich allerdings unser Sightseeingprogramm
aufnehmen können, muss ich irgendetwas gegen die perversen Schmerzen am
Schienbein unternehmen. Es fühlt sich an, als würde jemand den Muskel mit einem
Nagelbrett schrubben. Im Erste-Hilfe-Raum der Herberge werde ich fündig:
Spontan schmiere ich mir eine stattliche Portion Voltarén auf die schmerzenden
Stellen. Zwar kann ich mit der spanischen Packungsbeilage nichts anfangen, aber
nachdem die Schmerzen deutlich nachlassen, stapfe ich mit Marcos in eine farmacia und gönne mir eine Tube für läppische drei Euro zwölf. In Spanien
werden Medikamente vom Staat subventioniert. Was ein Traum für die
Pharmaindustrie. Daher kostet hier eine Tube Voltarén so viel wie eine Dose pulpo (deutsch: Krake) in Salsa-Soße. Schmeckt aber nicht so gut — das
Voltarén meine ich. Was mir besonders gefällt ist, wie sie das Wort
aussprechen. Bei uns in Deutschland! wird es »Voltaren« geschrieben und
»Wolltarehn« ausgesprochen. Die Spanier nuscheln dagegen »Boltaränn«, als wäre
es eine Schinkensorte.
Wie fast überall in Spanien um
diese Zeit üblich, wirkt Astorga wie ausgestorben. In einer schattigen Ecke
finden wir ein überteuertes Restaurant, wahrscheinlich gar nicht für Pilger
gedacht, aber wir wollen unser Bier, und hier bekommen wir unser Bier.
Entspannt dösen wir herum und palavern über Belanglosigkeiten, als plötzlich Simon
der Denker zielstrebig an uns vorbeimarschiert und in einer Seitengasse
verschwindet.
»Der hatte immer noch keinen
Schlafsack, oder?«, fragt Marcos.
»Ich glaube nicht.« Ich nippe
am Bier. »Wieso taucht der immer wieder auf? Und dann auch noch in unserem
Schlafraum, das kann doch kein Zufall sein.«
»Den habe ich gestern gesehen.«
»Ich auch«, ich erinnere mich
an den speisenden Denker in San Miguel del Camino. »Ich hatte so gehofft, dass
wir ihn los sind.«
»Wir werden ihn niemals los«,
erwidert Marcos resignierend. »Wir schleppen uns hier einen ab, und der rennt
da wie so ein Idiotmit Turnschuhen und T-Shirt...«
»... und ohne Schlafsack...«
Marcos lacht kopfschüttelnd:
»... und ohne Schlafsack, genau nach Santiago.«
»Ich glaube ja, der geht drauf.
In den Bergen.«
»Das glaube ich nicht. Der ist
total fit, viel fitter als wir.«
Mal sehen, ob das den Felsen
interessiert, der ihn erschlägt Nein, mal im Ernst. Ich kann nur hoffen, dass
ihm seine Dummheit nicht zum Verhängnis wird. Über Denkfehler in Astorga können
wir alle herzlich lachen. Denkfehler in den Bergen können die letzten sein, die
man begeht.
Etwa eine Stunde später taucht
Gill auf, und zu dritt machen wir uns auf Richtung Bischofspalast, dem Palacio
Episcopal de Astorga, in dem das Museo de los Caminos (deutsch: Museum der
Wege) untergebracht ist. Der im neugotischen Stil errichtete Bau wurde nach dem
Tod des Auftraggebers, Bischof Joan Baptista Grau i Vallespinós, und diversen
Streitigkeiten nie als Bischofspalast geweiht. Entworfen hat das Gebäude der
berühmte katalanische Architekt Antoni Gaudí, der sich mit dem Nachfolger des
Auftraggebers zerstritt und bereits während der Bauzeit einfach abreiste. Im
Innern kann man neben der spannenden Architektur und historischen Zeugnissen
der Jakobswege das originale Cruz de Ferro bewundern. Morgen werden wir
hoffentlich in über tausendfünfhundert Metern Höhe in den Montes de León seinem
berühmten Nachfolger begegnen, der einen der wichtigsten Stationen des Camino
markiert.
Trotz diverser Verbotsschilder
fotografiere ich fröhlich vor mich hin. Eine Mitarbeiterin findet das
allerdings überhaupt nicht komisch und ermahnt mich: »No photos!« Anschließend folgt sie mir auf Schritt und Tritt, und während ich aus
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