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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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Prinzip
möglichst unauffällig weitere Fotos schieße, versucht sie mich auf frischer Tat
zu ertappen. Was sie allerdings mit mir anstellen würde, entzieht sich meiner
Vorstellungskraft. Ich habe es unterwegs schon häufiger gedacht, aber all die
historischen Dokumente und Pilgerutensilien verdeutlichen noch einmal
eindringlich, wie viele Opfer unsere mittelalterlichen Vorgänger für eine
Pilgerreise aufgebracht haben müssen. Wir nutzen markierte Wege, zig Brunnen,
Wanderführer, Supermärkte und Apotheken. Wie lächerlich. Vor sechshundert
Jahren sind die Pilger einfach gen Westen gelaufen, über Felder und Berge,
Wälder und Wiesen, Flüsse und Römerstraßen. Unfassbar.
    Als wir aus dem Palast treten,
wird Gill von einem älteren Spanier abgefangen, der ihr auf seiner Gitarre
unbedingt ein Lied vorspielen möchte. Wir gesellen uns zu ihm, und er legt eine
rassige Flamenconummer hin. Wir klatschen begeistert und wollen uns
verabschieden, doch so einfach entkommen wir ihm nicht. Er möchte noch ein
zweites spielen, verkündet er mit vielsagendem Blick auf unsere Gill. Der sind die
Avancen recht gleichgültig, aber neugierig auf den nächsten Song ist sie dann
doch. Also lassen wir den Mann gewähren, und er haut in die Saiten. Hm. Hört
sich an wie das erste Lied. Sogar mit meinen milden Spanischkenntnissen kann
ich heraushören, dass es sich wieder um die Liebe dreht, um eine, die
zurückkommen soll, woher auch immer, aber wieso sollte sie zu einem
Jammerlappen zurückkehren, der immer wieder das gleiche Lied spielt? Als der
Gute sein drittes Lied ankündigt, grätscht Marcos aber so was von dazwischen,
dass der arme Mann nicht mehr weiß wie ihm geschieht. Plötzlich stehen zwei
etwa fünfzigjährige Verehrerinnen vor ihm und verwickeln ihn in ein Gespräch.
Unsere Chance, denken wir, und flitzen hinfort. Anschließend erforschen Gill,
Marcos und ich die Catedral Santa María aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Die
rötlich Schimmernde Kathedrale von Astorga versprüht einen ganz eigenen Charme
und unterscheidet sich deutlich von denen in Santo Domingo de la Calzada,
Burgos und León. Das liegt weniger am rornanischen Ursprung denn an den
maßgeblich formprägenden Bauten, die über die Jahrhunderte hinzukamen. So sind
zahlreiche Elemente gotisch, die Türme barock und das Hauptportal im
Renaissance-Stil erbaut. Besonders die barocken Türme lassen die Kathedrale
nicht so protzig wirken. Leider wird der Nordturm gerade restauriert und ist
vollständig von einem Baugerüst ummantelt. Auf der Rückseite der Kathedrale
steht auch die geplante Restaurationszeit: 1994 bis 2000. Und ich dachte, wir
in Hamburg seien mit unserer Elbphilharmonie in Verzug.
    Im Innern der Kathedrale setzt
sich der stilistische Mischmasch fort. Wie in Burgos und León wurde auch hier
der Chor ohne Rücksicht auf Verluste ins Mittelschiff gepflanzt, so dass einem
vom Hauptportal aus der direkte Blick auf den spektakulären Hochaltar verwehrt
wird. Auch führt diese architektonische Unart dazu, dass das ursprüngliche
Lichtkonzept nicht mehr optimal funktioniert; hinter dem Chor wirkt alles ein
wenig schummrig. Marcos erklärt mir, dass sich in der Vergangenheit jeder
König, jeder Bischof, jede halbwegs wichtige Person zwecks Machtdemonstration
in den Kathedralen verewigen wollte. Das ging nur, wenn irgendwo etwas an- oder
eingebaut wurde. Was sich also der ursprüngliche Baumeister bei der Planung der
Kathedrale gedacht hatte, interessierte dreihundert Jahre später niemanden
mehr. Nur deshalb sehen manche Sakralbauten aus wie Kraut und Rüben.
     
    Da Gill sich noch heute
unbedingt ein paar Wanderstöcke besorgen möchte, klappern wir alle nur
erdenklichen Geschäfte ab. In einem unscheinbaren Laden in einer Seitengasse
werden wir fündig. Da mittlerweile die Schutzkappen meiner Wanderstöcke
durchgescheuert sind, kaufe ich mir bei der Gelegenheit zwei Ersatzkappen.
Plötzlich taucht Simon im Geschäft auf und fragt Gill unvermittelt: »Wie viel
Uhr haben wir’s eigentlich?«
    Da alle zu verdutzt sind und
Gill nebenbei bemerkt in den letzten fünf Stunden keinen Deutschkurs besucht
hat, antworte »Alter, die spricht kein Deutsch. Immer noch nicht.«
    Und was macht er? Vielleicht
die Frage auf Englisch wiederholen? Vielleicht mal mich fragen? Aber nein, er
verschwind einfach wieder, kommentarlos und ohne Uhrzeit. Da gibt’s doch
bestimmt was von Ratiopharm.
    Wir schweigen den Vorfall
einfach tot und kaufen im Supermarkt fürs Abendessen

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