Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
noch im Ort. Bestens verpackt biegen wir am
Ortsende rechts nach San Xil ab. Links geht es nach Samos, doch niemand von uns
zeigt auch nur den Ansatz von Interesse daran, das zwanzigste Kloster am
Jakobsweg zu sehen und dafür sechseinhalb Extrakilometer durch den Regen zu
stapfen. Während wir uns per Stirnlampe und Instinkt durch Dunkelheit kämpfen,
regnet es von Minute zu Minute heftiger. Am Wegesrand entdecken wir ein
Ein-Mann-Zelt. Ich vermute stark, dass der eine Mann im Zelt bereits ertrunken
ist.
Wir reden kaum. Zu sehr sind
wir mit uns selbst beschäftigt. An den heißen, sonnigen Tagen spürt der Körper
den Camino ausschließlich von unten. Erst der Regen umhüllt uns wie einen
Mantel, und wir beginnen plötzlich unsere Wangen und Hände wahrzunehmen. Ich
laufe wie in einer Rüstung, nur wesentlich leichter, aber abgeschottet von und
beschützt vor der Welt. Die ganze Zeit muss ich über den bisherigen Camino
nachdenken. Was ich mir alles zugemutet habe, ich sehe mich kaum in der Lage,
das Geschehene, das Angegangene zu begreifen. Und ich laufe immer noch! Wenn
ich über den Verlauf des Camino nachdenke, fallen mir etliche Vergleiche ein,
beispielsweise die zu einer Party. Jedes Mal, wenn ich mich zu einem
Partybesuch überwinden muss, verläuft der Abend respektive die Nacht
fantastisch. Bis ich mich überwinde, kann es allerdings dauern. Auch zur Reise
auf dem Camino musste ich mich überwinden. Trotz aller Zweifel, die vor
Reiseantritt in mir aufkamen, verläuft sie bisher fantastisch. Nur hat es auch
hier eben ein wenig gedauert, bis ich mich überwinden konnte.
Nach etwa dreizehn Kilometern
über spiegelnde Straßen und durch mystisch nebelige Wälder entdecken wir in
einem Weiler eine kleine Bar und treten ein. Nur der Besitzer ist anwesend.
Gelangweilt steht er hinter der Theke und starrt auf den plärrenden
Fernsehschirm. Als er uns bemerkt, erwacht er zum Leben und winkt uns sofort
herein. Ohne Zögern bietet uns an, unsere nassen Sachen im Hinterzimmer zum
Trocknen auszubreiten. Anschließend wirft er seine Espressomaschine an und
verwöhnt uns mit heißen Getränken. Obwohl wir aussehen wie die letzten
Landstreicher, behandelt er uns wie Könige. Mit dem café con leche grande hin
ich wieder ruck zuck aufgewärmt; das Zeug wirkt Wunder. Bald betreten weitere
durchnässte Pilger das kleine Lokal. Da ein einziges Königreich nicht von allzu
vielen Königen gleichzeitig regiert werden sollte, beschließen wir
aufzubrechen. Wir packen unsere Sachen zusammen, bedanken uns bei unserem
Gastgeber und verlassen das Lokal. Draußen vor der Tür lehnen zwei nagelneu
Meru Trekker CX-4 an der Wand. Ich erstarre. Einer der Pilger dort drinnen
schwebt in höchster Lebensgefahr! Diese Todesstöcke müssen unverzüglich
vernichtet werden, sonst wird in Kürze ein unschuldiger Pilger einen Berghang
hinunterstürzen. Gerade als ich ein kleines Feuer entfachen will, fällt mir
ein: Es kommen keine Berge mehr.
Schon von weitem lässt sich ein
passabler Panoramablick auf Sarria erhaschen. Lediglich eine halbe Stunde
später erreichen wir erstaunlich gut gelaunt die Stadt des Schreckens. Das ist
sie also, die legendäre Hundert-Kilometer-Stadt. Mein Wanderführer widerspricht
mir und meint, eine Hundertsiebzehn-Kilometer-Stadt zu erkennen, allerdings tut
das jetzt gerade überhaupt nichts zur Sache. Bevor wir die Treppen Richtung
Altstadt erklimmen, kaufe ich mir in einem respektabel ausgestatteten
Sportgeschäft neue Schutzkappen für meine Wanderstöcke. Bisher bot jede größere
Stadt mindestens ein akzeptables Sportgeschäft mit den wichtigsten Utensilien
für den sofageschädigten Pilger von heute. Dieser hier in Sarria bietet sogar
drei unterschiedliche Gummi-Schutzkappen an. Braucht kein Mensch, aber das
Gefühl der Überversorgung wirkt auf Stadtbewohner bisweilen äußerst beruhigend.
Anschließend geht es einmal
mehr einen fiesen Hügel hinauf, nur diesmal gepflastert und von Häuserreihen
flankiert. In der Iglesia de Santa Marina erstehe ich einen zweiten Pilgerpass.
Der erste ist bereits fast voll, und bis Santiago de Compostela muss noch
ordentlich herumgestempelt werden. Apropos Stempel: Alle Sarria-Pilger müssen
im Pilgerbüro von Santiago de Compostela zwei Stempel pro Tag vorweisen,
andernfalls können sie sich maximal ein mildes Lächeln abholen. Ergo ist der
Weg ab sofort mit Stempeln überschwemmt. Jede winzige Bar im hinterletzten, von
Kühen vollgeschissenen Kaff, jede mieseste Absteige im
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