Vom Schlafen und Verschwinden
Versuch, seine Frau der Unterwelt zu entreißen. Ich glaube nicht, dass er es selbst weiß. Er hat den Chor gegründet, als sie ins Koma fiel.
Heidrun war Flötistin in einem Ensemble für Alte Musik, und nun probt er ein Lied, in dem der Schlaf angefleht wird, zu kommen oder für immer wegzubleiben?
Ich habe Heidrun im Heim besucht. Sie isst nicht mehr, sie bekommt Tee durch einen Plastikschlauch, der aus ihrer Nase hängt. Wenn der Tee in den Schlauch gepumpt wird, sieht es aus, als kröche der Schlauch wie eine dünne Schlange in ihre Nase hinein. Oder aus ihr heraus, je nachdem, wie der Tee gerade fließt.
Spätestens bei der Beerdigung werden wir das Lied singen und darauf warten, dass sie sich auf den Weg macht, humpelnd, schwach, mit geschwollenem Fuß. Eine Schlange hat Eurydike in den Fuß gebissen, eine dünne, teefarbene Schlange. Aber kurz vor dem Ausgang dreht sich Orpheus nach seiner Frau um.
Zurückschauen kann tödlich sein, aber man weiß vorher nie genau, für wen.
Die Graureiher fliegen durch die hohen Pappeln. Die Rheinauen sind auch grau. Der getrocknete Schlamm ist grau, die Unterseiten der Blätter der Pappeln und Trauerweiden sind grau. Und im Mai wehen die hellgrauen Samenflocken der Pappeln durch das Tiefgestade. An manchen Stellen liegen sie kniehoch. Ein federweicher, halb durchsichtiger Sommerschnee, Baumdaunen, Traumflaum. Wenn ich hindurchwate, löst sich das leichte Gewölle, und ich bewege mich in einer Wolke, die mich langsam umwirbelt und überall eindringt. Mulmig wird mir dabei. Was geschähe, wenn ich mich ganz darin einmummelte? Der Flaum würde sich in meine Nase legen, ich müsste den Mund öffnen, er würde sich füllen, ich würde irgendwann einatmen müssen und zöge das zarte Gespinst in meine Lungen.
Am Eingang zur Unterwelt steht eine Pappel. Eine schwarze, hier sind die Pappeln silbern. Die Graureiher sind alle unterschiedlich grau, manche ganz hell, andere fast schwarz, Töne von Asche und Staub. Und schließlich gibt es Tage, da erscheint ihr Gefieder blau. Vielleicht spiegelt sich in ihm das Wasser und im Wasser der Himmel und im Himmel das Gefieder des Reihers. Ich sehe immer welche. Jeden Tag, wenn ich um den See oder noch weiter gehe, bis hinunter zum Rhein, fliegen sie an mir vorbei. Näher als fünfzig Schritte lassen sie mich nicht heran. Auf jeder Feder des Reihers sitzt ein Auge. Doch für die anderen bin ich unsichtbar.
Nach Plinius ist es gegen Schlaflosigkeit gut, einen Reiherschnabel in Eselshaut zu nähen und ihn sich vor die Stirn zu binden. Aber Wermut unter dem Kopfkissen, sagt er, helfe ebenfalls.
So ähnlich mache ich es auch bei meinen Patienten. Entweder ich verordne ihnen Bewegung an frischer Luft oder ich zwinge sie, sich eine Atemmaske vor das Gesicht zu binden, monströse Rüssel-Apparaturen, gegen die sich ein Reiherschnabel in Eselshaut mickrig ausnehmen würde.
Ein abgetrennter menschlicher Finger, den man auf den Tisch legt, bringt den Schlaf. Das linke Ziegenhorn, ohne das Wissen des Menschen unter das Kissen gelegt, verwandelt Schlaflosigkeit in Schlaf. Das Kraut Leberklette, einem Schlafenden aufs Haupt gelegt, ohne dass er es merkt, bewirkt, dass er nicht eher aufwacht, als bis man das Kraut wegnimmt. Die Galle des Aals ist gut gegen Schlaflosigkeit. Das Blut des Wiedehopfes, in einem Tuch auf die Schläfe oder den Puls gestrichen, verleiht schöne und wunderliche Träume. Der Schädel des Wolfs, unter das Kissen gelegt, erzeugt Schlaf. Legt man Wolfsmilch auf den Hals einer schlafenden Frau und Fuchshoden auf ihr Herz, so erzählt sie alles, was sie weiß.
Heidrun war eine verschwiegene Frau. Das bedeutete nicht, dass sie besonders schweigsam war. Sie rief jedem, den sie kannte, vom Fahrrad aus einen fröhlichen Gruß zu und radelte schnell weiter. Auf Festen und Abendgesellschaften fragte sie ihre Gegenüber nach den Kindern und nach dem Urlaub, wobei sie sogar die Reiseziele der anderen im Kopf hatte, obwohl sie deren Berichte überhaupt nicht interessierten. Sie hasste reisen. Sie erkundigte sich auch nach der Gesundheit, erinnerte sich beim nächsten Gespräch an jede Einzelheit und nahm aufrichtig Anteil.
So merkte keiner, dass sie selbst wenig erzählte und nieetwas preisgab. Ihre Verschwiegenheit war so tief und so versteckt, dass niemand auf die Idee kam, ihr neugierige Fragen zu stellen, nachzubohren, oder bei Bekannten etwas über sie herauszufinden. Wurde sie doch einmal etwas Persönliches gefragt,
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