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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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bevor zu kalt, Gelee, Ofen, abkratzen, auf den Stapel schieben, Blech neu bestreichen, gleich mehrere raus, bröckelig, egal, mit Gelee kitten, schnell.
    Nur die letzte Schicht musste ohne Makel sein, eine lichte Ebene, glatt und rund mit Zuckerguss, erst semitransparent auf dem beigen Teig, später weiß und fest wie die Haut auf der Innenseite eines Kinderarms.
    Essen mochte die Schichttorte außer Joachim eigentlich keiner, sie war zu süß. Ich erinnere mich an Marmorkuchen mit verzerrten Fratzen im Dunklen des Marmormusters. Bisquitrollen, die in ihrer Farbe, Form und Konsistenz an dralle, blond gefärbte Damen erinnerten, die zu viel Puder auftrugen und über der Oberlippe schwitzten. Und immer wieder Strudel, Strudel, Strudel. Ein Teig, der auf die Arbeitsplatte geklatscht werden musste wie ein Froschkönig gegen die Wand, nur fünfzigmal, und der danach über beiden Handrücken gedehnt wurde, bis er aussah wie ein großes Stück abgezogene Haut. Diese Haut durfte an keiner Stelle reißen, sonst gab es hässliche Narben, die niemals wieder richtig zusammenwuchsen.
    Ich stehe wieder auf und gehe in die Küche. Neben dem Herd liegt eine angebrochene Tafel Kinderschokolade. Ich nehme mir zwei Riegel. Schlaflosigkeit macht dick, eine sattsam bekannte Tatsache. Draußen zeigt sich ein schwächliches, ungesundes Licht. Es fällt nirgendwo herein, es schimmert nicht, es legt sich plan auf die Fensterscheibe, eine fahle Lichtschicht ohne Glanz.

7.
    Dienstag, 17. September, Orla spät, sonst alle da.
    Come Heavy Sleep, alle proben alle Stimmen.
    Ich sitze auf der Rathaustreppe, die anderen sind schon nach Hause gegangen.
     
    Ein Eisvogel flog heute Morgen über den Kanal im Wald. Ich sah ihn aus dem Augenwinkel und dachte erst, es sei eine Libelle oder ein entflogener Wellensittich aus dem Vogelpark. Sein erschütterndes Türkis, das flammende Rostbraun. Er stieß mit dem langen Schnabel kurz ins Wasser, flatterte auf, setzte sich, flog weiter, verschwand.
    Was verschwindet, verlangt danach, gesucht zu werden. Vielleicht gehe ich deshalb mit dem Fernglas durch den Wald. Was verschwindet, kann wiedergefunden werden. Aber das kann lange dauern. Es hat lange gedauert, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass Lutz verschwunden war. Unauffindbar. Weg.
    Mein verlorener Sohn.
    Ich träume noch manchmal von ihm. Nicht mehr so oft wie früher, das ist zugleich gut, weil ich ihn beim Aufwachen nicht noch einmal verlieren muss, und schlecht, weil es schön ist, ihn ab und zu mal wiederzusehen.
    Der Eisvogel kam nicht zurück.
    Er hat die gleichen Farben wie Orla Feld mit ihren Augen und ihrem Haar.
     
    Als Erstes lernen alle die Sopranstimme. Orla und mir fällt es schwer, mit einem H zu beginnen, und gleich darauf geht es sogar noch höher. Orla macht es gut, schneidet aber Grimassen und holt unter Geraschel eine Thermoskanne aus ihrer Tasche. Sie gießt Tee in den Deckel, bietet mir einen Schluck an und flüstert: »Um die Schmerzen zu lindern.«
    Ich lehne ab.
    Ich möchte das nicht.
    Ellen entfaltet sich erst ab einer gewissen Höhe, nach Cis befreit sich ihre Stimme vom Mehltau und beginnt zu blühen. Joachim schlägt sich wacker, Benno fällt alles leicht. Andreas bleibt eine Oktave, manchmal zwei, unter uns.
    Heidrun, für die wir dieses Lied schließlich singen, liegt weiterhin im Koma. Koma ist ein komisches Wort, tiefer Schlaf, rückwärts heißt es Amok.
    Beides kommt auf dasselbe heraus.

Ich vermisse Benno, sein Gelächter, seine Gier. Meine Haut tut weh, weil seine Haut sie nicht berührt. Mir fehlt sein Mund auf meinem Mund, sein Atem auf meinem Hals, seine Hand auf meiner Hüfte, wenn ich wie jetzt auf der Seite liege. Und dass er hart wurde, nur weil ich mit einer unbewussten Bewegung der Hand meine Schulter berührte. Es macht mich verrückt, ihn nicht zu vögeln, er machte mich verrückt, er ist verrückt.
    Mit Declan war es anders. Er hatte mich schon als Mutter kennengelernt, er fühlte sich verantwortlich. Und Rockstar oder nicht, wir konnten uns nicht so frei lieben. In Sünde und mit unehelichem Kind in einem katholischen Land zu leben, fühlte sich nicht rebellisch an. Es ermüdete mich. Außerdem spielte er keine Rockmusik, sondern traditional Irish music, Volksmusik. Im Krankenhaus blieb ich Dr. Feld, überall sonst ließ ich die Leute im Glauben, ich sei Mrs. Burke. Es war mir zu mühsam, immer alles zu erklären.
    Nach der Abtreibung war es zwischen Declan und mir ohnehin aus. Er wollte das Kind

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