Vom Schlafen und Verschwinden
habe ihr bei diesen Zusammentreffen nicht einmal zugezwinkert, sagte Orla und weinte, sondern sei ganz reizend und anteilnehmend gewesen, und Orla habe zwischendurch geglaubt, ihre Fantasie sei mit ihr durchgegangen und sie würde Pat zu Unrecht beschuldigen.
Das war schon zwei Monate her, aber gestern hatte Declan sie gebeten, noch eine CD bei Patrick abzuholen, heute nach der Schule. Sie sagte erst Nein und dann doch Ja, weil sie nicht kindisch sein wollte. Sie klingelte, er machte auf, Anne war wieder nicht da, und wieder wollte er sie auf den Schoß nehmen, aber sie sagte, sie müsse noch woandershin, und ging.
Orla schüttelte den Kopf, auf ihrem kahlen Schädel tanzten die Reflexe der Deckenlampe, und sie blickte mich trotzig an. Die CD habe sie aus Versehen liegen lassen, die müsse sich Declan selbst holen. Und er solle sie sich sonst wo hineinschieben. Und danach habe sie Sheila getroffen, die vor dem Schaufenster des Tattoo-Studios in der Parliament Street gestanden habe. Ich kannte den Laden. In einem Nebenraum arbeitete auch ein Friseur, der sich auf Irokesenschnitte, Stachelfrisuren und ungewöhnliche Färbungen spezialisiert hatte. Ich schloss die Augen und sagte nichts. Orla sollte reden.
Sheila und sie hätten sich die Motive angeschaut, und sie habe zu Sheila gesagt, dass sie diesen Knoten so schön finde. Klar, habe Sheila gesagt, aber das traust du dich sowieso nicht, und da habe sie Sheila um Deborahs Ausweis gebeten, den Sheila immer bei sich hatte, Deborah wurde sowieso nie danach gefragt, und sie sei damit in den Laden gegangen, den Ausweis habe niemand sehen wollen, weil sie größer gewesen sei als alle, die dort herumstanden. Dann habe sie gesagt, erst rasieren, dann tätowieren. Also habe sie der Tätowiererin den Fünfzig-Euro-Gutschein gegeben, den sie bei sich getragen habe, weil sie ihn Patrick erst habe zurückgeben wollen, aber dann doch nicht mehr, und den Rest habe ihr Sheila geliehen.
– Aber warum das alles?
– Ich war ein Schaf, ich musste geschoren werden. Außerdem finde ich es gut.
Ich war erleichtert, den Trotz in ihrer Stimme zu hören. Und bei allem Hass, den ich auf Patrick verspürte, bei aller Verzweiflung, all meiner Trauer, dass mein Kind in so vieler Hinsicht angeritzt, versehrt und gezeichnet worden war, machte mich die Tatsache, dass sie die Tätowierung »gut« fand, auf sonderbare Weise froh. Die Zeichnung war äußerst filigran, ein durch und durch verschlungener Knoten,ein Gewebe, ein Irrgarten aus Linien ohne Eingang oder Ausgang. Es war tatsächlich ebenso fein wie die Ornamente in jenem mittelalterlichen Manuskript, dem Book of Durrow, und trug dennoch eine eigene freie Handschrift, eine Kühnheit im Schwung der Linien. Es war ein schönes Tattoo, wenn man Tätowierungen mag.
Ich mochte sie jedenfalls nicht an meiner Tochter.
Das Betrachten ihrer durchlöcherten, entzündeten Kinderhaut bereitete mir Schmerzen, so, als wären die Einstiche mit einem stumpfen Nagel durch meinen eigenen Körper gehämmert worden. Unter anderen Umständen wäre ich wohl in Tränen ausgebrochen, aber ich musste Orla schützen, also riss ich mich zusammen.
Vielleicht war es gut, dass sie das getan hatte. Statt sich einfach nur blind zu strafen, machte sie zwar etwas Schmerzhaftes, doch zugleich Schönes mit ihrem Körper. Sie verwandelte sich. Das dachte ich aber längst noch nicht, als wir dort auf dem Fußboden ihres Zimmers kauerten. Ich warf mir vor, dass ich sie nicht früher zur Rede gestellt hatte. Hatte ich mir vielleicht nur eingeredet, dass ich ihr Raum lassen musste, und war in Wirklichkeit bloß feige gewesen?
Ich brachte Orla in mein Bett, setzte mich ins Wohnzimmer und wartete auf Declan. Er kam um vier Uhr morgens, er musste ziemlich betrunken gewesen sein, aber man merkte es ihm kaum an, er roch nach Whiskey und Rauch und Parfüm. Es war mir egal. Ich erzählte ihm alles, was ich aus Orla herausbekommen hatte. Declan sagte, er glaube es nicht. Erst wollte ich scharf antworten, doch plötzlich tat er mir leid. Patrick hatte ihn noch nie im Stich gelassen, es war verständlich, dass Declan nicht an diesen Verrat glauben konnte.
– Ich glaube es auch fast nicht. Es ist zu schrecklich.
– Es kann nicht wahr sein.
– Ich wünschte, du hättest recht. Komm mit.
Ich zeigte ihm die schlafende Orla in unserem Bett.
Er sah ihren kahlen Schädel mit dem keltischen Knoten und rannte ins Bad, ich hörte, wie er sich übergab, dann lief der Wasserhahn, sehr
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