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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Orla, sie wurde stiller. Natürlich dachten wir zunächst, Sprachlosigkeit gehöre zu den üblichen Ausfallerscheinungen, die das Alter von vierzehn Jahren mit sich brachte. Schließlich war sie auch schon so gut wie gehörlos, zumindest wenn Declan und ich mit ihr sprachen. Ohnehin schien sie ihre gesamte Lebenskraft beim Telefonieren zu verbrennen. Während wir sie durch die Zimmerwand aufgekratzt und pausenlos schnattern hörten, ja, schallendes Gelächter und vergnügtes Quietschen vernahmen, sackte sie völlig in sich zusammen, sobald sie auflegte. Wenn ich danach ihr Zimmer betrat, schien es sie Mühe zu kosten, sich mir überhaupt körperlich zuzuwenden, so sehr hatte sie sich verausgabt.
    Aber diese Veränderung war anders. Sie wechselte fast kein Wort mehr mit uns, nicht einmal in diesem Ton aggressiver Langeweile, an den ich mich zu gewöhnen versucht hatte. Früher vergaß sie ab und zu, wie peinlich und nervtötend ich war, und konnte dann freundlich sein, mir beim Einkaufen oder Aufräumen helfen oder etwas über ihre Freundinnen und deren Freunde erzählen, das sie unheimlich komisch fand. Ich fand das zwar meistens nicht, aber trotzdem war ich dankbar für die friedliche Stimmung.

    Das alles hörte auf. Sie kam kaum noch aus ihrem Zimmer, schloss es ab, wenn sie morgens in die Schule ging, und wenn sie mit mir sprach, merkte ich, wie sie sich bemühte, nett zu sein. Dieses Bemühen aber war es, das mir Sorgen machte. Sie reizte mich nicht und probierte nichts aus, vielmehr versuchte sie, nicht aufzufallen, nicht meinen Unwillen zu wecken. Sie wollte, wie sie sagte, einfach nur in Ruhe gelassen werden. In Ruhe lassen bedeutete, dass wir sie wie Luft behandeln sollten. Sie aß nicht mehr mit uns zusammen, sondern sagte in einem Ton höflichen Bedauerns, sie habe keinen Hunger, und kurz darauf nahm sie sich Käse und Brot und Erdnussbutter mit in ihr Zimmer. Als ich sie darauf ansprach, wirkte sie so gekränkt, dass ich mich entschied, erst einmal abzuwarten. Zumindest aß sie. Ich fragte Declan, ob er glaube, sie nehme Drogen, und er dachte kurz nach und schüttelte den Kopf.
    – Aber irgendetwas hat sie, sagte er.
    Ja, irgendetwas hatte sie.
    Manchmal vergaß sie natürlich, ihr Zimmer abzuschließen, und ich durchsuchte es jedes Mal. Ich war nicht stolz darauf, aber ich hätte mich, ohne zu zögern, auf jedes geheime Tagebuch, jede E-Mail, jede noch so private Notiz gestürzt, um zu erfahren, was Orla umtrieb. Doch das Einzige, was ich fand, waren große Mengen von Verpackungsmüll, Schokoladenriegel, Chips, Kekse, Lakritz. Das gefiel mir nicht, aber es war besser als irgendwelche bunten Pillen, die ich zu finden fürchtete.
    Eines Abends kam Orla spät nach Hause und ging sofort in ihr Zimmer. Ich hatte sie hereinkommen hören und gerufen, aber sie antwortete nicht. Ich hörte, wie sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Ich wurde plötzlich zornig. Sorge enthält immer große Anteile Wut. Je mehr ich mich um jemanden sorge, desto mehr verlangt es mich, die Person, um die ich mich sorge, zu ohrfeigen. Ich rüttelte also an OrlasZimmertür und wünschte sehnlichst, sie möge aufmachen, einzig damit ich sie ohrfeigen könne. Ich schrie, dass ich die Tür jetzt aufbrechen würde. Fast bedauerte ich, dass sie tatsächlich aufschloss, denn ich hatte mir schon mit tiefer Befriedigung das Geräusch vorgestellt, mit dem die Tür unter meinem Fuß krachen, splittern und nachgeben würde. Sie schloss auf, und noch bevor ich in ihr Zimmer stürmen konnte, hatte sie sich an die hintere Wand gestellt. Sie hatte kein Licht angemacht. Sie trug einen schwarzen Kapuzenpulli. Ich konnte ihre Augen nicht sehen. Ich wusste nicht mehr, was ich sie eigentlich fragen wollte, also knipste ich das Licht an und schrie:
    – Was ist hier eigentlich los?
    Orla sagte nichts, brauchte sie auch nicht. Ich ging mit zwei Schritten auf sie zu und riss ihr die Kapuze vom Kopf.
    Orla war kahl.
    Sie hatte eine Tätowierung auf dem Schädel. Riesig. Eine riesige blauschwarze, frische Tätowierung, die Haut drum herum war noch ganz rot und gereizt. Es sah aus, als würde es sehr wehtun. Beim Anblick der entzündeten Haut wich alle Wut aus mir wie die Luft aus einem aufgeschlitzten Reifen. Orla schaute mich stumm an. Ich ging in die Knie und sagte nur:
    – Orla, meine Orla.
    Orla sank auch in die Knie und fing an zu weinen.
    Ich konnte die Tätowierung jetzt gut sehen, ein verschlungener keltischer Knoten, der den Großteil ihrer

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