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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Toilette musste, den zweiten sah eine der Töchter des Hauses, als sie frühmorgens von einer Party kam. Da sie sich, um nicht bestraft zu werden, noch schnell die Partykleider aus- und das Nachthemd anziehen musste, bevor sie Alarm schlagen konnte, hatte das Feuer schon großen Schaden angerichtet. Danach geisterte jener Onkel nur noch durch das Haus, wurde schwächer und schwächer, grauer und grauer, dünner und dünner und flüsterte so lange vor sich hin, bis er starb.
    Nun war diese Familienkrankheit wieder aufgetaucht und ausgerechnet bei der jungen Frau meines Kollegen. Auch wenn diese Form der Insomnie nicht in unseren Forschungsbereich fiel, so konnte man dennoch wichtige Studien darüber anstellen: welche Folgen der Schlafentzug hatte, wie der Körper versuchte, den Schlafmangel zu kompensieren, welche Funktionen zuerst geopfert wurden, welche sich am beharrlichsten hielten.
    Ich fragte mich, ob mein Kollege das machen würde: seine Frau studieren. Im Wissen, sie nicht retten zu können.
    Heidrun konnten wir auch nicht retten. Nicht einmal mit Gesang. Der Chor bestand so lange, wie sie ihren letzten Schlaf schlief, den ihr keiner mehr rauben konnte. Sangen wir aus Lust oder Verzweiflung? Natürlich schlief sie nicht. Innerhalb des komatösen Zustandes konnte ich zwischen Wachen und Schlafen unterscheiden. Puls und Atem gingen schneller, wenn ich hereinkam, und sie schlug oft für längere Zeit die Augen auf, sah mich aber nicht. Die Falten um ihre Augen bildeten ein dichtes Hautnetz, und unter der Netzhaut hatten sich ihre Pupillen eng zusammengezogen.Heidruns Iris war so grau wie Stein, wie der Himmel über einer norddeutschen Stadt am Meer.
    Draußen klebt das kalte Licht am Fenster. Ich bin müde. Ich habe keinen Albatros abgeschossen. Zumindest glaube ich das.

8.
    Mittwoch, 18. September
     
    Wir singen immer wieder dasselbe Stück, gestern, jeden Dienstag. Komm, schwerer Schlaf. Nicht, dass wir es schon könnten. Der Tenor singt ein ganz anderes Lied als wir anderen, viel beschwingter. Oder liegt es nur an Benno? Er hat gefragt, ob wir auch noch andere Dowland-Stücke singen würden, Joachim wurde verlegen. Offenbar hatte er nichts anderes vorbereitet. Benno bot an, er könne sich im Internet nach Noten umsehen.
     
    Ich kann meine Geschichte von vorne nach hinten und von hinten nach vorne erzählen oder von jeder beliebigen Stelle aus in beide Richtungen gleichzeitig, wie jener sonderbare Krebskanon von Bach. Als Ludwig Krebs bekam, holte ich ihn wieder nach Hause. Als er starb, zog ich hierher. Vorwärts und rückwärts. Krebse gibt es am Baggersee auch, nicht nur die Graureiher, Haubentaucher, Kanadagänse, Brandgänse und Kormorane, Eisvögel, Schwäne und Enten. Ich beobachte sie, aber keiner sieht mich. Doch, Andreas hat mich gesehen, aber er ist selbst eine Art Wasservogel. Manchmal sehe ich ihn in seinem Ruderboot angeln. Wie ein Reiher kann er stundenlang still stehen, und plötzlich zieht er einen silbernen Fisch, einen blitzenden, zuckenden Muskel, aus dem Wasser. Ich weiß, dass er die Frösche aus dem See holt, jene riesigen Ochsenfrösche, von denen keiner weiß, wie sie dorthin gekommen sind. Sie fressen die Eier der Vögel und ihre Küken. Es ist gut, dass er sie tötet. Er mariniert sie und verkauft sie heimlich hinter der Post. Ich habe schon öfter Leute mit eckigen Aluminiumbehältern um die Post gehen sehen. Aber mich sieht keiner.
    NUR DIE HEIDRUN .
    Nur die Heidrun auf ihrem Fahrrad konnte mich sehen. Sie winkte und grüßte, aber ich sah, wie sie mich sah und über mich nachdachte. Ich habe nie mit ihr über Lutz gesprochen, sie kannte ihn bestimmt. Seit Ludwigs Tod habe ich mit niemandem über Lutz gesprochen. Außer mit der Polizei.
    Ob Heidrun trotzdem etwas gewusst hat?
    Nein, keiner weiß es.

Das Cortisol, das nachts ausgeschüttet wird, macht zwar wach, aber auch, dass wir nicht mehr so scharf denken können. Also soll es ruhig kommen, sich in mir verströmen und von meiner müden gedankenzermürbten Seele Besitz ergreifen.
    Ich stehle mich nun doch hinüber in Orlas Zimmer. Sie liegt in ihrem großen Bett, eine große junge Frau. Sie ist so heil und rund und weich. In ihrer gewölbten glatten Stirn kann ich immer noch ihr früheres Kindergesicht sehen und in ihren locker geballten Händen die Babyfäuste mit den Grübchen. Aber die Aura der Unversehrtheit trügt. Einige Monate bevor ich den Entschluss fasste, aus Irland und von Declan fortzugehen, veränderte sich

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