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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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lägen.
    Andreas blickte zu Boden, weniger zerknirscht als wütend. Ellen schaute voller Empörung auf ihren Vater und auch auf Andreas, es ist klar, dass sie weiß, woher die Beschwerde kommt.
    Ellen: »Ich bin der Sopran. Du kannst mich ruhig beim Namen nennen, wenn ich falsch singe. Den kennst du ja wohl.«
    Joachim: »Nun, Kind, wir wollen uns nicht von der Gewalt der Affekte brechen lassen, nicht wahr. Gerade das ist schließlich die Aufgabe eines Chores, jedenfalls die meines Chores. Darf ich dich an das erinnern, was ich in der ersten Stunde gesagt habe? Dadurch, dass der Chor, wie der Dichter sagt, mit seiner beruhigenden Betrachtung zwischen die Passionen tritt, gibt er uns unsere Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde.«
    Joachim war aufgewühlt. Es gab Streit, einen Sturm der Affekte. Orla hat mich angeschaut und die Augen verdreht. Sie wollte sich einmischen und ihrer Mutter etwas sagen, aber ich habe den Kopf geschüttelt. Also legte sie mir kurz die Hand auf den Arm und schwieg.
    Die Berührung war beruhigend gemeint. Doch nur mit Mühe gelang es mir, meinen Arm nicht wegzureißen.
    Ich will nicht neben Orla stehen.
    Ich will nicht von ihr berührt werden.
    Ich bekomme eine Gänsehaut davon. Ellen liebt Orla, sie ist ihr Ein und Alles. Was würde aus ihr, wenn Orla etwas zustieße? Sie würde zu dem, was ich bin. Ein grauer, dünner Vogel mit knochigen Beinen und aufgerichteten Federn.

Wenn ich um diese Zeit wach liege, kann es passieren, dass ich kurz vor dem Aufstehen einnicke, den Wecker in der Schublade nicht höre und verschlafe, aber heute nicht, dafür muss es dunkler sein. Die innere Uhr des Menschen liegt in seiner Netzhaut, in ihr verfängt sich die Nacht, die nachtschlafende Zeit.
    Ob ich Andreas gestern wirklich gesehen habe?
    Ich habe eine Patientin, die von Geburt an blind ist. Ihre innere Uhr dreht sich eine knappe Stunde langsamer als die Erde, und weil sie über den Lichteinfall auf der Netzhaut diese 25. Stunde nicht ausgleichen kann, ist es so, als habe sie ihr halbes Leben lang Nachtschicht. Melatonin wirkt erst bei Menschen ab fünfzig, aber sie ist jünger, ungefähr so alt wie ich, hat zwei Kinder und einen Hund. Sie zieht sich immer sehr schön an.
    Schicht um Schicht blättert ab von dieser Nacht. Es sind jetzt mehr Autos zu hören, mein Schlafzimmer ist längst keine stille Kammer mehr, in der ich des Tages Jammer verschlafen und vergessen könnte. Joachim hat das Lied abends an meinem Bett gesungen. Es ist bekannt, dass das Schlafen dem Erinnern mehr hilft als dem Vergessen. Nicht nur weil der Schlaf das Gedächtnis festigt und die Erinnerungen an des Tages Jammer wachhält, sondern auch weil der Schlaf so ein gesammelter Zustand ist.
    Ich blicke auf die Blockstreifenschatten der Lamellen, Schattenlamellen, ich muss an die Sauerkirschen in Joachims Garten denken. Sie zogen einem immer die Mundhöhle zusammen.
    Wachsein hat etwas Zerfasertes und Zerstreutes und ähnelt dem Vergessen viel mehr als der Schlaf. Und wie für den Schatten gilt auch für den Schlaf: je tiefer, desto konzentrierter. Schatten meines Endes, Umriss meiner Ruhe. Wir haben das Lied doch nicht auf Heidruns Beerdigung gesungen, obwohl ich glaube, dass Joachim essich gewünscht hätte. Es gab Schwarzwälder Kirschtorte, viel zu üppig für eine Beerdigung, bei der eigentlich trockener Kuchen gereicht wird. Ich weiß nicht, wessen Einfall es gewesen ist, aber die zwölf Torten standen plötzlich da, verführerisch und sahnestrotzend, die Stücke waren so schwer und weich, dass sie auf Tellern und Tortenhebern taumelten und kippten, und alle Trauergäste mussten sich Sahne und Schokoladenraspeln von den Lippen und Händen lecken. Die Kirschen waren nicht entsteint, und überall spuckten Leute verstohlen und geduckt die Kerne auf ihre Kuchengabeln, in Servietten oder klaubten sie sich mit den Fingern aus dem vollen Mund. Orla hatte einen Schokoladenfleck auf der Wange. Kind der schwarzgesichtigen Nacht. Nur wegen dieses Liedes ist der Chor überhaupt entstanden. Nachdem Andreas sich beschwert hatte, sangen wir noch zwei andere Lieder von Dowland: »Fine Knacks for Ladies« und »Come Again, Sweet Love Doth Now Invite«. An der Beerdigung nahm Marthe nicht teil, sie ist nicht wiedergekommen. Ihr Ende bleibt rätselhaft, und ich zwinge mich dazu, nicht allzu viel darüber nachzudenken, zumindest nicht um diese Tageszeit. Es beunruhigt mich zu sehr. Ist sie tot? Es fühlt sich nicht so

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