Vom Schlafen und Verschwinden
Körper und drückte das Knöpfchen an der Autotür herunter, sein Arm streifte dabei meine linke Brust. Er sah mich an, schwieg, ich schaute zurück.
– Eine sehr raffinierte Art, eine Frau zu bitten, sie möge doch noch nicht gehen.
Er fuhr sich durch die Haare.
– Ellen. Geh noch nicht. Ich glaube, wir haben noch etwas miteinander zu … zu besprechen. Ich meine, da ist noch etwas, was noch nicht. Du hast mich heute ziemlich überrascht, weißt du das?
– Ich fürchte, ich habe mich auch ziemlich überrascht.
– Ich weiß nicht, was zwischen Andi und dir ––
– Ich weiß es auch nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, was zwischen dir und mir ––
– Ich auch nicht.
Lutz hielt inne, runzelte die Stirn und fuhr leise fort:
– Aber ich möchte es gern wissen. Es hat sich gut angefühlt. Du fühlst dich gut an, Ellen.
– Ich weiß nicht mal, ob ich dich überhaupt leiden kann.
– Ich weiß aber, dass ich dich leiden kann, und bis gerade wusste ich nicht, wie sehr.
Und Lutz musterte mich mit so unverhohlener Begierde, dass ich keine Lust hatte, ihm zu erklären, was es bedeutete, jemanden leiden zu können. Ich wusste es ohnehin selbst nicht mehr so genau. Vielleicht hatte es ja doch etwas mit Leidenschaft zu tun.
Ich hegte eine Leidenschaft für Lutz, das war nicht zu leugnen, und ich frönte dieser Leidenschaft noch am selbigen Abend in Lutz’ Zimmer, das vielmehr eine Wohnung war, im Hause seines Vaters. Es bereitete ihm Vergnügen, mir Lust zu machen. Vielleicht gefiel es ihm, zu sehen, wie ich die Kontrolle über mich verlor, mir war es gleich, Verlust war auch Lust, und so war Lutz bei all seiner Selbstverliebtheit ein guter Liebhaber.
Ich war den ganzen Sommer mit ihm zusammen. Im Nachhinein glaubte ich, dass ich ihn wirklich nicht leiden konnte, aber das mochte auch erst später gekommen sein, als er mich sitzen ließ, mit dem Kindlein im Bauch. Das war, was einem passierte, wenn man schwanger wurde: Alles brach weg. Als ich gar keinen Boden mehr unter den Füßen spürte, verließ ich das Land und flog nach Irland. Die Praktikumsstelle dort hatte ich schon fast vergessen, ich hatte sie mir kurz vor der Trennung über meinen Freiburger Arztfreund besorgt. Eine Insel wäre die Rettung, dachte ich. Trotzdem wusste ich, dass da etwas in der Art war, wie Lutz ging, wie er damals nach dem Drachenflug auf mich zuschritt, das mir sagte, dass er einer war, der wirklich keineGrenzen kannte. Hätte er mich sehen wollen, hätte er mich auch auf einer Rettungsinsel gefunden. Ob ich ihn dann noch hätte sehen wollen? Es war müßig, darüber nachzudenken. Er kam nicht. Und so begann Declans Werben.
Von Andreas sah ich in jenem Sommer so gut wie nichts.
14.
Dienstag, 15. Oktober, Joachim erklärt Harmonien, Ellen muss früher gehen.
Es gibt Spannungen im Chor. Ich bin nicht die Einzige, die nicht mit ansehen kann, wie Ellen Benno nicht ansieht. Andreas sieht es, und es gefällt ihm nicht, Orla sieht es und weiß nicht genau, was sie davon halten soll, selbst Joachim runzelt die Stirn, obgleich ich nicht weiß, ob er wirklich etwas ahnt. Aber die Stimmung ist gespannt. Ein Chor ist ein empfindliches Gefüge. Stimmungen schlagen sich als Erstes in den Stimmen nieder, man kann sofort hören, wenn etwas nicht stimmt. Joachim hört etwas, auch wenn er nichts sieht.
Ellen und Benno sind sich durch den Chor nahegekommen, oder zumindest ist der Chor der Deckmantel ihrer Treffen, und doch wollen sie sich gerade vor dem Chor nicht als Liebespaar zeigen. Sie machen uns zu Kupplern und Betrogenen. Wie diskrete Hoteliers dürfen wir keine neugierigen Fragen stellen, müssen sie beschützen und so tun, als sähen wir nichts, keine Blätter, Grasflecken, zerzaustes Haar, nichts von alledem. Und gleichzeitig müssen wir wie Gehörnte dabei zusehen, wie die beiden ihre Affäre vor uns geheim zu halten versuchen.
Dabei ist es längst durchgesickert.
Alle sind gereizt. Andreas hat Joachim eine Notiz geschrieben, auf der steht, dass wir jetzt schon seit zwei Monaten dasselbe Lied singen, ob Dowland auch noch etwas anderes geschrieben habe. Er hat mir den Zettel gezeigt. Joachim ist gekränkt. Er übt das Lied für Heidrun. Joachim hat vorhin gesagt, solange der Chor den Refrain falsch singe, habe er wenig Lust, das nächste Lied halb einzustudieren. Gerade der Bass, also Andreas und er, Joachim selbst, wären oft zu hoch, während alle anderen, vor allem der Sopran, gern einen halben Ton zu tief
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