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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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an.
    Zweifelhaft bleibt auch, ob wir hätten singen können, selbst wenn sie noch da gewesen wäre. Joachim brach jedes Mal die Stimme weg, wenn er von Heidrun sprach, und ich glaube nicht, dass Orla und ich es geschafft hätten, an Heidruns Grab zu singen. Blieb also nur noch Andreas, der seit Jahren mit niemandem gesprochen hatte. Ob er nun gerade an jenem kalten Nachmittag vor dem halben Dorf den Mund aufgekriegt hätte? Benno sah ich nur kurz auf dem Friedhof, aber nicht in der Kapelle, und er kam auch nicht ans Grab, um Joachim und mir die Hand zu schütteln. Unschlüssig stand er zwischen den Grabsteinen herum. WieFalschgeld, dachte ich, und fast hätte ich gelacht, aber stattdessen heulte ich.
    In jenem Spätsommer, als Heidrun noch schlief und wir im Chor den Schlaf Woche für Woche aufs Neue heraufbeschworen, war Benno seinem Fälscher dicht auf den Fersen. Mittlerweile hatte er einer Akte aus dem Generallandesarchiv Karlsruhe entnommen, dass die Unteroffiziersschule um die vorherige Jahrhundertwende herum aus allen Nähten zu platzen drohte. Sie war im Ettlinger Schloss untergebracht, und Anbauten waren dort nicht möglich gewesen. Es gab so viele Zöglinge, und noch mehr Bewerber drängten nach, dass man die Schule hätte schließen und an anderer Stelle wieder eröffnen müssen. Doch die Stadt Ettlingen war dagegen, die Unteroffiziere ließen viel Geld beim Metzger und beim Schneider, und es floss durch die Schule sogar Geld aus Berlin nach Baden.
    Benno sagte, es sei die Idee seines Soldaten Hugo Schwindt gewesen, eine Art Zeltstadt in den Rheinauen aufzubauen. Sie sollte für jene Füsiliere sein, die sich nach ihrer Ausbildung freiwillig für die Schutztruppen nach Afrika melden wollten. Normalerweise gab es für diese Truppen kaum eine Ausbildung. Es reichte, dass sie mit einem Gewehr umgehen und ein Pferd reiten konnten. Aber die Schule war so voll, dass eine zeitweilige Ausquartierung von einem Dutzend jungen Männern zwischen sechzehn und neunzehn Jahren schnell genehmigt wurde. Hugo Schwindt, ein junger Leutnant, wurde offenbar abkommandiert, um die zukünftigen Rekruten vorzubereiten auf das, was sie dort in der Ferne erwarten würde.
    Und so verschwand er in den Wäldern.
    Benno las Briefe, Akten, Aufzeichnungen. Er marschiertedurch die Rheinauen und suchte nach Spuren von Hugos Lagerstätte. Ich bewunderte seine Beharrlichkeit, aber fand sie auch ein wenig rührend. In Grund erzählte ihm der Schuster eine Geschichte von einem verrückten Füsilier, der mit einer Kindsmörderin im Wald gehaust und sich von Brombeeren ernährt habe. Aber ich glaubte ihm nicht, jedes Dorf hatte eine Geschichte von einem Spinner im Wald. Außerdem betatschte der Schuster einem den Po, wenn man seine Schuhe abholen wollte. Und dabei blinzelte er durch seine Hornbrille, deren Gläser so dick waren wie Aschenbecher, sodass seine grünbraunen Augen sie bis zum Rand hin ausfüllten. Wenn er das eine Auge beim Blinzeln schloss, sah es aus, als trüge er kurzzeitig eine Augenklappe. Er lachte laut und anzüglich, wenn er einem die Schuhe zurückgab, und ich wusste nicht genau, was er, außer sie neu zu besohlen, noch alles mit ihnen angestellt hatte.
    Benno glaubte ihm, aber er wurde ja auch nicht begrabscht. Oft begleitete ich Benno bei seiner Suche nach Hugos Lager. Im Wald herrschte eine dunkle, feuchte Hitze, die alle Geräusche dämpfte und an der jeder Windstoß abzuprallen schien. Die armdicken Lianen der Waldrebe schlangen sich um Baumstämme. Ihre weichen Blüten waren von einem staubigen Grau. Die Misteln in den Pappeln sahen aus wie alte Bäume, die auf alten Bäumen wuchsen, und es war mir, als ob auf diesen Bäumen wiederum Bäume wuchsen und auf diesen wieder welche und immer so weiter. Ich stellte mir vor, dass wir selbst auf einer Kugel lebten, die aber nur die Ausstülpung einer Gallwespe auf einem einzigen Blatt unter Billionen von Blättern eines anderen Baumes waren, der seinerseits wieder Teil eines Baumes noch gewaltigeren Ausmaßes war.
    Manchmal flogen Graureiher auf, aber meistens standen sie schmal und regungslos auf der Erde. Sie konnten sichfast unsichtbar machen und sahen uns immer zuerst. Das metallische Sirren fliegender Schwäne über uns zerschnitt die stehende Luft, oder sie wurde durchbohrt vom Schrei eines Eichelhähers, um sich danach noch fester über dem kurz entstandenen Loch zu schließen. Und immer wieder hörten wir den Rhein, meist nur als Verstärker für die anderen

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