Vom Schlafen und Verschwinden
betrachtete Heidrun Menschen, die mit unverhohlener Lust Schlimmes und Peinliches von sich preisgaben und glaubten, nur weil sie ihre Fehltritte, Charakterschwächen und moralischen Unzulänglickeiten öffentlich bekannten, würden sich diese Fehler auf wundersame Weise in Tugenden verwandeln. Sie verstand nicht, wie jemand ernsthaft glauben konnte, er würde allein dadurch liebenswert, dass er der Welt offenbarte, wie dumm und schlecht er in Wahrheit war. Sollte es nicht genau andersherum sein? Heidrun bewunderte Menschen, die ihre Geheimnisse mit ins Grab nahmen. Todesanzeigen gaben nie die Geheimnisse der Toten preis – sie entlarvten höchstens die Angehörigen. Das war etwas anderes.
Ich habe sie nie gefragt, was aus jenem kanadischen Lautenspieler mit den dunklen Haaren und der hellen Haut geworden ist, von dem sie mir das eine Mal beinahe erzählt hätte. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Vielleicht hätte ich ihm ja eine Anzeige geschickt, doch sie hatte seinen Namen längst vergessen.
Als Joachim Heidrun kennenlernte, sagte sie ihm, dass sie Dowland verehre, und dabei leuchtete ihr ganzes Gesicht so hell, dass er sich wünschte, sie würde einmal so aussehen, wenn sie von ihm, Joachim, spräche. Er erzählte mir das bei einem unserer Wachwechsel an ihrem Sterbebett. Wir saßen selten zusammen bei ihr, es strengte uns zu sehr an. Wir waren beide angespannt. Seine Betriebsamkeit machte mich reizbar, und meine Gereiztheit verletzte ihn. Joachim war fast immer dort. Ich glaube nicht, dass sein Wunsch von damals je in Erfüllung gegangen ist. Doch das ist nicht wichtig.
Wir waren froh, dass ihr Tod schmerzlos sein würde. Wir dachten, er würde leicht werden. Schließlich konnte sie ohne jegliche Willenskraft nicht am Leben hängen. Was wir nicht bedachten, war, dass sie auch nicht den Willen hatte zu gehen: Ein Vierteljahr lebte Heidrun von Tee, der durch ihre Nase geschüttet wurde, und ohne eine einzige Kalorie. Als Leute begannen, über Guinnessrekorde zu sprechen und zu googeln, wie lange man ohne Essen auskommen konnte, starb sie. Das Wort »erlöst« kam nicht in ihrer Anzeige vor, auch nicht das Wort »Krankheit«, es gab sowohl Spenden als auch Schärpen, keine Ausrufezeichen, keine gelüfteten Geheimnisse. Und kein blasser Unbekannter mit dunklem Haar und den schwieligen Händen und langen Fingernägeln eines Lautenspielers schritt die Reihen der Gräber ab, ja nicht einmal einen Zug von Kanadagänsen sahen wir am hellgrauen Himmel.
Allerdings fiel an diesem Tag der erste Schnee. Es waren gewaltige Flocken, handtellergroß, nass und schwer. Sie fielen steil herab auf die Erde, ihre Ränder wurden durch den Luftwiderstand nach oben gebogen, wobei die meisten von ihnen zerrissen. Eine Flocke fiel auf meinen Ärmel, sie bestand aus vielen ineinander verhakten Kristallnetzen. Ich musste an die Wasserspinne denken, eingefroren in der eigenen Atemluft. Der große Schnee dauerte nur ein paar Minuten. Als wir vom Friedhof fortgingen, regnete es.
Es hatte gerade aufgehört zu regnen, als Benno und ich im Herbst auf das Brombeerversteck stießen. Doch der Wald war so dicht, dass die Tropfen immer noch von Blatt zu Blatt rollten und auf unseren Köpfen und Schultern zerplatzten. Wir waren weiter gegangen als sonst, wahrscheinlich weil es zu nass war, um auf den Deichwiesen herumzuliegen und das zu tun, was wir immer taten, wenn wir im Wald waren. Lichtungen gab es hier nur wenige. Wo keine Bäume standen, war Wasser. Wasser war auch dort, wo Bäume standen.
Im Winter froren die verschlungenen Altrheinarme, der Hafen, die stillgelegten Wasserstraßen früherer Schmuggler rasch zu. Doch das Wasser in den Rheinauen war mal da und mal nicht. So bildete sich Eis am Anfang des Winters bei Hochwasser, und wenn im Laufe der kalten Zeit der Wasserstand fiel, senkte sich die gesamte Eisfläche ab. Nachdem sich das Eis jedoch um Pappelstämme und Weidenzweige festgezurrt hatte, blieb es dort haften und brach erst nach unten weg, wenn sein eigenes Gewicht zu groß wurde. Die Uferbäume trugen daraufhin Eismanschetten um den Stamm, während die eigentliche Eisfläche erst unterhalb ihrer Wurzeln begann. Ein Gebüsch konnte auf seinen Spitzen eine Eisplatte tragen, während sich der Rest des zugefrorenen Sees ein großes Stück unterhalb dieser Platte erstreckte.
In der Oberstufe, als wir zu seltsamen Zeiten in der Schule sein mussten, gingen Andreas und ich manchmal morgens Schlittschuh laufen. Oft war es noch
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