Vom Schlafen und Verschwinden
dämmerig, und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätten wir uns einbilden können, in einem gemeinsamen Traum zu stecken. Vom alten Hafen aus glitten wir über das Eis zum anderen Ufer, wo der Wald begann. Wir zogen langsame Kurven zwischen den Bäumen hindurch, unter der Eisfläche klebte Laub und zeigte uns, wie dünn das Eis hier war. Wir fuhren so lange durch den Wald, bis wir einbrachen. Denn obwohl unsere Beine sofort bis zu den Knien verschwanden, bekamen wir nie nasse Füße. Mit den Schlittschuhen standen wir auf dem weichen, trockenen Waldboden. Wir waren über Luft gefahren.
Mein Schlafzimmer ist jetzt bis in die letzten Winkel angefüllt von morgengrauem Licht. Ein Auto nach dem anderen fährt am Haus vorbei. Die Vogelstimmen sind nicht mehr einzeln zu erkennen, sondern in einem Gewebe aus Tönen und Trillern verflochten. Sobald sie leise werden, ist es Tag.
Schlaflose sind Wartende. Zuerst warten sie auf den Schlaf, dann auf den Tag. Dann warten sie den ganzen Tag darauf, dass er vorbeigehen möge, damit sie abends wieder auf den Schlaf warten können. Schlaflose sind wie vernachlässigte Mätressen, ein Wort, das nach Matratze klingt, aber wahrscheinlich bin ich schon vollkommen fixiert. Wie Benno auf seinen Soldaten im Wald.
Wir gingen durch den tropfenden Wald und kamen ans Wasser. Unweit dieses alten Rheinarms wuchs ein dichtes Brombeergestrüpp, bestimmt zwei Meter hoch. Ich wollte wissen, ob noch reife Früchte daran waren, und wir stapften hin. Als wir näher kamen, sahen wir, dass sich die dornigen Äste über ein Stück Mauer ergossen. Benno ging umdas Dornengebüsch herum, gleich neben der Mauer fand er eine Art Guckloch. Er zog mit einem Ast die Ranken zur Seite, und wir spähten in einen weitläufigen Hohlraum. Zur Wasserseite hin grenzte er an das Mäuerchen. Benno wollte sofort hinein. Zunächst gelang es ihm nicht, denn die langen Äste hatten messerscharfe Dornen. Sie verhakten sich in seinen Haaren und schlitzten ihm die Jacke auf.
– Schieb das mal weg und halt es fest, bat er mich.
Ich nahm zwei abgebrochene Pappeläste und drückte mit aller Kraft die Ranken zur Seite. Benno schlüpfte in die Höhle. Er machte seltsame Geräusche, ja, er schrie, und ich wurde unruhig.
– Geht es dir gut da drinnen? Oder hast du dir gerade die Augen ausgestochen?
– Mir geht es sehr gut!
Seine Stimme klang dumpf.
– Du hörst dich an, als müsste ich mir Sorgen machen.
– Nein, musst du nicht. Was du da hörst, ist mein Jauchzen.
– Oh. Gut. Du jauchzt. Das ist sehr gut.
– Ja, ich jauchze.
Und er jauchzte gleich noch einmal, um mir zu zeigen, wie es sich anhörte, wenn man in einem Brombeerdickicht saß, aus dem man ohne fremde Hilfe nicht wieder lebend herauskommen würde, und dennoch guter Dinge war.
– Ja, jetzt höre ich es auch. In der Tat.
– Ellen, das ist es. Das ist es. Hier hat er gehaust. Das muss es sein!
Erst wusste ich nicht, wovon er sprach, aber schließlich verstand ich.
– Du meinst, das hier ist das Schutztruppen-Ausbildungslager am Oberrhein, die Outdoor-Zweigstelle der Unteroffiziersschule in Ettlingen?
Selbst durch einen halben Meter Dornengestrüpp konnteBenno meine Skepsis vernehmen und hörte auf zu jauchzen. Schweigen quoll nun aus dem Dornbusch, an dem, wie ich jetzt erst bemerkte, viele kleine Brombeeren hingen. Die roten würden nicht mehr reif werden, viele waren weich oder angetrocknet, aber es waren einige schwarze daran, die noch einen Rest Süße in sich trugen, selbst wenn sie fast schon gegoren waren. Ich pflückte sie mit den Fingerspitzen und steckte sie in den Mund. Benno war entweder gekränkt oder dachte nach.
Ich hörte, wie er sich da drinnen bewegte, das Klappern von Metall, und kurze Zeit später wieder lang anhaltendes Jauchzen, es war ein nimmer endendes Jubilieren und Frohlocken, ich wurde ungeduldig vor Aufregung.
– Was ist los, Benno, jetzt komm raus, ich will auch da rein.
– Ellen. Ellen. Du wirst es nicht glauben, hilf mir, halt noch mal den Eingang frei, bitte.
Ich drückte wieder mit ganzer Kraft die dicken Äste gegen das Gestrüpp, und Benno kam gebückt, mit dem Rücken zuerst aus der Höhle. Er zog etwas hinter sich her. Ich ließ los und wandte mich ihm zu. Es war eine schwere Eisenkiste, sehr rostig.
– Ah, ein Schatz.
– Ja, ein Schatz. Schau mal.
Er öffnete vorsichtig die Kiste, Rost sprang von den Scharnieren, die überhaupt sehr mürbe zu sein schienen. In der Kiste lagen stark vergilbte,
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