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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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eigentlich braune Blätter mit Notizen. Die oberen zwei oder drei waren kaum mehr lesbar, sie mussten feucht geworden sein in dieser Eisenkiste, aber weiter unten im Stapel konnte man erkennen, dass sie alle eng beschrieben waren. Das Erstaunlichste war jedoch: Diese Handschrift kannte ich! Ich hatte sie bei Benno auf dem Schreibtisch gesehen, als ich ihn einmal zu Hause abgeholt hatte.

    Ich schluckte und betrachtete die Blätter.
    – Du hast recht, Benno. Das ist von ihm.
    – Ich weiß!
    Er jauchzte.
    – Und jetzt?
    – Jetzt lese ich das, und dann schreibe ich es ab, und dann weiß ich, wie es wirklich war, und dieses Wissen werde ich in ein emotionsloses Historikerdeutsch pressen, damit bloß keiner merkt, dass ich tatsächlich Lust verspürt habe beim Verfassen meiner Doktorarbeit, das wäre meiner Karriere sicher abträglich. Nein, ich muss gelitten haben, so wie alle anderen vor mir auch gelitten haben, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Müh’ und Arbeit gewesen, und dann werde ich berühmt, bekomme einen fetten Lehrstuhl an einer amerikanischen Elite-Uni und kann bis zu meinem Lebensende alles tun, wozu ich Lust habe.
    Er nahm mein Kinn in die Hand und küsste mich auf den Mund.
    – Ich könnte es mit dir in den Sümpfen von Alabama treiben, in der Wüste von Albuquerque, auf texanischen Rinderweiden, in den Flusstälern des Saskatchewan oder unter den bunten Laubbäumen Vermonts im Indian Summer. Kommst du mit?
    Ich lachte. Er küsste mich noch einmal.
    – Oder ich werde eine Afrika-Autorität und mache für den Rest meines Lebens Exkursionen nach Tansania, Namibia, Ruanda, so lange, bis ich von einer Tse-Tse-Fliege gestochen werde, die Schlafkrankheit bekomme und von einer schönen weißen Schlafmedizinerin, mit der ich zufällig im Busch --
    – Zusammentreffe?
    – Genau. Also … zusammentreffe, schließlich gerettet werde.
    – Davon träumst du nachts.

    – Ehrlich gesagt, ja, genau das tue ich. Woher wusstest du das?
    – Das ist Teil unserer Zusatzausbildung in Somnologie. Es heißt Traum-Antizipation. Nicht besonders anspruchsvoll, jedenfalls nicht bei den männlichen Patienten.
    Benno gähnte so künstlich er konnte.
    – Was hast du gerade gesagt, Ellen? Tut mir leid, ich bin wohl kurz eingenickt. Sonderbar, das passiert mir sonst nur, wenn ich mich sehr langweile, also so was, hm …
    Ich unterbrach ihn.
    – Wieso Afrika-Autorität? Du weißt doch eigentlich nichts über Afrika. Und wie es scheint, wusste dein Freund Hugo ebenso wenig darüber.
    Benno hörte mich gar nicht.
    – Was mache ich denn mit der Kiste? Sie ist zu schwer, ich kann sie nicht durch den Wald ziehen.
    – Vielleicht nimmst du dir jetzt einen Stapel Blätter mit und dann den nächsten und so weiter?
    – Ich habe nicht einmal eine Plastiktüte dabei. Diese Blätter sind empfindlich und wertvoll.
    Wir schwiegen und dachten nach. Benno sagte:
    – Nein, ich weiß es. Ich komme mit meinem Laptop her und arbeite hier, in der Höhle.
    – Du spinnst.
    – Vielleicht. Aber das ist es gerade, was du an mir magst.
    – Vielleicht.
    Er küsste mich, erst ein wenig abwartend, doch wie ein Schock kam das Begehren über uns, überkam uns. Aber als er mich in die Brombeerhöhle schieben wollte, wehrte ich mich. Nicht dort. Dort nicht.
    Er hob nur die Augenbrauen, sagte nichts, und wir gingen zurück. Auch an diesem Tag kam er nicht mit ins Haus. Kurze Zeit später sprachen wir kaum noch miteinander.

17.
    Dienstag, 22. Oktober, alle anwesend. Come Heavy Sleep, Takt 17, 18 und zum ersten Mal Come Again, Sweet Love.
     
    Ich habe so lange hier gelebt, ohne aufzufliegen.
    Warum jetzt?
    Ich wollte nicht, dass die Leute hier wissen, dass ich die Mutter des vermissten Jungen bin. Des »jungen Mannes«, so nannten sie ihn bei der Polizei, da hört sich die Sache gleich nicht mehr so dringend an. Ich wollte nicht, dass mir die Aura der Tragödie anhaftet. Es hätte mich daran gehindert, zu warten und zu schauen. So wie sich Eisenspäne um beide Seiten eines Magneten, die anziehende wie die abstoßende, anordnen, so wirken Schönheit und Tragik auf alle Menschen, die mit ihnen in Berührung kommen. Sie schaffen sofort ein Kraftfeld, in dem sich alles nach ihnen ausrichtet. Schöne Menschen, Orla, Lutz, von mir aus auch Ellen, haben nie die Möglichkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.
    Grau muss man dafür sein, verborgen und wachsam.
    Genauso ist es bei Menschen, die eine Tragödie durchlebt haben. Was sie umgibt, gleicht

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