Vom Tod verführt: Roman (German Edition)
wandte ich den Blick ab und starrte auf die Abflussrinne in dem Linoleumboden. » Ich bin ja extra hierhergekommen, um mich für mein Verschwinden zu entschuldigen. Ich wollte euch echt keine Sorgen bereiten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich so lange fort war.«
Ich blickte wieder auf. Tamara verzog den Mund, dann wandte sie sich ab, zog ein neues Paar Gummihandschuhe aus der Box und streifte sie über. Ohne ein weiteres Wort beugte sie sich wieder über die Leiche.
Ich blieb stehen, wo ich war. Trotz meiner engen Verbundenheit zu den Toten, hätte ich einen Job wie den von Tamara niemals ausüben können. Dazu hatte ich nicht die Nerven.
Das Schweigen dehnte sich aus, und so begann ich, mich umzuschauen. Obwohl ich meinen Schutzschild eng geschlossen hielt, spürte ich all die Toten um mich herum. Ohne mich mit der Schattenkraft zu verbinden, ließ ich mein Bewusstsein in den Leichnam sinken, den Tamara gerade untersuchte. Ich fand genau das, was ich erwartet hatte: eine fast leere Hülle mit einem zerstückelten Schatten darin.
» Noch eins der rituellen Opfer?«
» Sie wurde heute Morgen von ihrer Schwester gefunden.« Tamara blickte auf. Ihre Augen waren schmal. » Kannst du dir eigentlich vorstellen, welche Angst ich hatte? Vier Tage warst du verschwunden, und dann spazierst du plötzlich hier rein und sagst: ›’tschuldigung, ist ein bisschen kompliziert.‹ So läuft das nicht, Alex. Freunde benehmen sich nicht so. Sie ver…«
» Ich war im Feenland.«
» …schwinden nicht einfach und…« Sie hielt inne. » Wo warst du?«
» Ich hab dir doch gesagt, dass es kompliziert ist. Ich war im Feenland. Dort sind nur ein paar Stunden vergangen, aber hier habe ich vier Tage verloren.« Ich hatte Caleb versprochen, dass ich weder der OMBM noch der Öffentlichkeit verraten würde, wo ich gewesen war, aber Holly und Tamara waren meine besten Freundinnen. Und in letzter Zeit hatte ich eh schon so vieles vor ihnen geheim gehalten. Zu viel.
Tamara starrte mich überrascht an, und so fuhr ich fort: » Im Moment ist alles nur ein einziges Durcheinander. Wenn es vorbei ist, dann werde ich dir bei ein paar Bier ganz genau erzählen, was passiert ist. Das verspreche ich dir.«
» Das ist ja genauso verrückt wie Tommys Geschichte.«
O Mist. Tommy. Er hatte fast drei Wochen im » Bloom« verloren. Er war vermutlich mehr als verwirrt– und niemand hatte ihn gewarnt, dass er den Mund halten sollte über das, was passiert war. » Was hat er denn gesagt?«
» Oh, ich habe nur Gerüchte gehört. Die Sicherheitsleute haben ihn aufgehalten, als er einfach so hier hereinspazieren wollte. Er behauptet, dass er nicht die geringste Ahnung habe, welche Aufnahme sie meinen. Dann hat er noch gesagt, er wisse nicht, dass Gouverneur Coleman ermordet worden sei. Sie haben ihn den ganzen Tag über verhört.
Armer Tommy.
Mein Lächeln geriet etwas schief. Ich deutete mit dem Kopf auf die Leiche. » Wer ist sie?«
» O nein, so einfach kommst du mir nicht davon.« Tamara stemmte die Hände in die Hüften. Ich sah sie einfach nur an, und sie blies hörbar den Atem aus. » Du warst wirklich im Feenland?«
Ich nickte.
» Mädchen, in was hast du dich da schon wieder reingeritten?« Sie schüttelte den Kopf und beugte sich erneut über den Leichnam. » Das war Julie Staton, eine Weissagungshexe. Sie konnte die Zukunft vorhersehen. Ich hoffe für sie, dass sie nicht vorhergesehen hat, was mit ihr passieren würde.«
Ich verzog das Gesicht. Hoffentlich! Das Vorhersehen künftiger Ereignisse war eins der seltensten magischen Talente. Eine Weissagungshexe besaß keine Schilde, mit denen sie ihre Visionen ausblenden konnte. Man brachte ihnen lediglich bei, wie sie damit umgehen konnten, und sie verbrachten viel Zeit in Therapie, weil sie wussten, dass genau das geschehen würde, was sie sahen. Selbst wenn es etwas ganz Schreckliches war und sie verzweifelt versuchten, es aufzuhalten. Sie konnten es nicht, denn die Vision hatte ihren Widerstand schon einkalkuliert. Falls Julie vorausgesehen hatte, dass sie als seelenloser Körper auf Tamaras Obduktionstisch landen würde… Ich schauderte.
Tamara schüttelte den Kopf und schaute in Julies Brusthöhle. » Ich kann einfach nicht herausfinden, woran diese arme Frau gestorben ist.«
» Sind denn keine Glyphen in ihren Körper geritzt?«
» Doch, die gleichen wie bei all den anderen, aber die Wunden gehen nicht tief, bleiben an der Oberfläche. Und sie hat nicht so viel Blut
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