Vom Tod verführt: Roman (German Edition)
empfunden hatten. Und dennoch hatte man nie einen Schatten als Zeugen aufgerufen. Bis zu diesem Moment.
Ich blendete meine Umgebung aus und lenkte so lange Energie in den Kreis, bis er um mich herum zum Leben erwachte. Dann versenkte ich mich tiefer in die Trance, öffnete meinen Schild.
Auf dem Stuhl des Angeklagten saß Amandas Nachbar. Bisher fußte die Anklage auf lediglich zwei Beweisstücken: einem einzelnen blonden Haar, das man in seinem Bett gefunden hatte und das von Amanda stammen mochte– doch da die Haarwurzel fehlte, war ein DNA -Abgleich nicht möglich–, und es gab eine Tankstellenrechnung aus dem County, in dem man die Leiche gefunden hatte.
Der Staatsanwalt konnte beweisen, dass der Angeklagte die Gelegenheit und die Mittel dazu gehabt hatte, den Mord zu begehen. Doch Amandas Aussage war das Einzige, was den Täter zweifelsfrei überführen konnte. Die Art dieses Verbrechens und der Mangel an handfesten Beweisen hatte den Bezirksstaatsanwalt schließlich dazu bewogen, Amandas Zeugenauftritt zuzulassen. Dies und die Tatsache, dass wohl kaum ein Opfer mehr Mitleid bei der Jury hervorrufen würde als Amanda.
Ich ließ meine Kraft in ihren Schatten fließen, bemühte mich, die Gestalt, die meine Magie ihr gab, so real wie möglich erscheinen zu lassen.
Auf einmal erhob sich ein Schrei über das Gemurmel, und mein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen.
Habe ich jemand anderen beschworen?
Nein, es war nicht Amanda, die schrie. Es war die Menge. Die Leute schrien.
Ich öffnete die Augen. In meiner Schattensicht sah ich Amanda Holliday auf dem Sarg sitzen, um sie herum das verfaulte und verrottete Holz des Zeugenstandes. Sie war in ihrem Sonntagskleid beerdigt worden, doch als sie gestorben war, hatte sie ein blutbesudeltes T-Shirt getragen. Das war es, woran sich jede Zelle ihres Körpers erinnerte, und so zeigte sich auch ihr Schatten.
Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch, bemüht, die Ordnung wiederherzustellen. Amandas weinende Mutter musste aus dem Gerichtssaal geführt werden. Sie war nicht die Einzige. Amandas blinde Augen schienen sie zu beobachten, doch ihr Engelsgesichtchen blieb ausdruckslos. Sie war tot, und so berührte sie der Horror ihres Sterbens nicht mehr.
Doch er wühlte die Jury auf, die Menge und ganz offensichtlich auch den Angeklagten. Er war blasser als der Schatten, seine Augen quollen hervor, während er den Blick nicht von der Fünfjährigen und dem klaffenden roten Lächeln auf ihrer Kehle lösen konnte.
» Auf die Jury und darauf, dass dies eine der kürzesten Beratungen aller Zeiten war!« Holly prostete uns mit der Bierflasche zu.
Auch Tamara hob ihre Flasche. » Darauf, dass die bösen Jungs alle weggesperrt werden!«
Ich stieß mit beiden an und nahm einen tiefen Schluck von dem zimmerwarmen Bier. Als ich die Flasche wieder abstellte, lief mir ein Schauder über die Arme, und ich verkroch mich tiefer in meinen Blazer. Ich war vermutlich der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der etwas Langärmliges trug, aber ich hatte den Schatten länger als eine Stunde gehalten. Und die Grabeskälte hatte die unangenehme Angewohnheit, noch lange nachzuwirken.
Holly und Tamara hatten beide ihre Anzugjacken ausgezogen, und in echter Feierlaune ließ Holly ihr rotes Haar offen über den Rücken fallen. Sie war der Meinung, dass sie professioneller erschien, wenn sie es streng zusammensteckte, doch mit eins sechsundfünfzig auf hohen Absätzen und ihrem herzförmigen Gesicht wirkte sie trotzdem eher niedlich als furchteinflößend – bis sie einen im Zeugenstand zu packen bekam.
Trotz meiner beeinträchtigten Sicht bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine schimmernde Gestalt, die sich hinter mir herumtrieb. Dieser verdammte Geist! Doch ich machte mir nicht die Mühe, mich umzudrehen. Ich war eh die Einzige am Tisch, die ihn sehen konnte, und wenn ich es tat, würde er ja doch nur verschwinden, wie er es schon den gesamten Vormittag über getan hatte. Durchgeknallter Typ! Ich ignorierte ihn.
» Wir sind ein echt gutes Team«, sagte ich zu meinen Freundinnen und nahm einen weiteren Schluck.
» Darauf trinke ich auch!« Tamara strich ihr langes braunes Haar zurück, bevor sie ihre Flasche hob.
Holly nickte. » Auf unsere Zusammenarbeit!«
Wir stießen erneut an. Holly hatte mitgeholfen, Amandas Fall für das Gerichtsverfahren vorzubereiten, Tamara hatte die Autopsie durchgeführt, und ich hatte die Zeugin beschworen. Besser ging es gar nicht. Der Einzige, den
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