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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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Einstellung.
    Ari Seth Cohen, ein junger amerikanischer Fotograf, verbringt seine Zeit damit, durch New York zu spazieren und besonders elegante ältere Menschen zu fotografieren. Cohen schreibt in der Einleitung seines Blogs Advanced Style: »Man soll die Älteren achten. Vielleicht lernen Sie von diesen Damen und Herren, wie Sie Ihr Leben voll auskosten können. Advanced Style beweist, dass man im Alter nicht nur weiser wird, sondern oft auch stilsicherer.« Einiges, was Cohen vorstellt, ist für den Geschmack europäischer eleganter Damen etwas zu bunt und schrill, einiges wirkt regelrecht exzentrisch. Aber vieles ist auch richtig schick. Den Kommentaren der Blogbesucher nach zu urteilen inspiriert die Sammlung auf jeden Fall eine Menge älterer Menschen – nicht nur in Amerika. Es gibt also einiges, worauf man sich freuen kann. Versuchen Sie es doch einmal mit Eleganz. Oder mit Exzentrizität. Warum eigentlich nicht? Warum nicht gleich?

11
LIEBE
    Sex ist die eine Sache, aber Liebe ist eine ganz andere. Man kann sie nicht ein- und ausschalten, wie es einem passt. Ungeachtet der Vorstellungen, die einige Jüngere hegen, kann man sich auch noch mit fünfzig, sechzig oder neunzig neu verlieben. Vor dreißig Jahren war es mir ein absolutes Rätsel, wie sich meine Mutter in den alten Mann verlieben konnte, für den sie meinen Vater verließ. Heute schäme ich mich dafür, dass ich an ihr gezweifelt habe. Meine italienische Kollegin und ich haben herausgefunden, dass ältere Menschen relativ häufig ihre Jugendlieben wiederentdecken. Das liegt sicher zum Teil an den Gemeinsamkeiten, den gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen, über die sie sprechen können. Doch noch ein weiterer Faktor scheint eine Rolle zu spielen. Eine Psychologin hat festgestellt, dass viele ältere Menschen in diesen Situationen eine Art »zweifachen Blick« entwickeln. Sie sehen sich und den Partner so, wie sie heute sind, und gleichzeitig so, wie sie in ihrer Jugend waren.
    Ein Beispiel dafür ist Sarah. Sie war achtundfünfzig, als es ihr passierte. Sie war verheiratet, hatte aber keine Kinder, und arbeitete als Bürovorsteherin in einer führenden Hamburger Anwaltskanzlei. Ihr Leben gefiel ihr, sie war zufrieden mit sich, mit ihrem Eheleben, mit ihrem Beruf. Ihre Vorgesetzten waren freundlich, ihre Kollegen umgänglich, sie ging gerne zur Arbeit. Sie war mit einigen wenigen Schulfreunden in Kontakt geblieben, hatte aber nicht ein einziges Klassentreffen mitgemacht. Als aber das dreißigjährige Abiturjubiläum groß gefeiert werden sollte, wollte sie sich das nicht entgehen lassen.
    Das Treffen fand auf einem großen Bauernhof außerhalb von Hamburg statt, der einem der Klassenkameraden, Franz, gehörte. Er hatte den Hof geerbt und lebte dort mit seiner Familie. Das Land war verpachtet, Franz, der bei einer Hamburger Computerfirma arbeitete, hatte weder Lust noch Erfahrung, einen Hof zu führen. Seine Frau Bea und er erwiesen sich als sehr freundliche, herzliche Gastgeber. Fünfzehn Ehemalige waren gekommen, einige von weither. Einer war sogar aus Paris angereist.
    Als Sarah ankam und die anderen begrüßte, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Den anderen erging es sicherlich genauso. Einige hatte sie dreißig Jahre nicht gesehen. Sie sah die älter gewordenen Gesichter, das angegraute Haar und grub in ihrer Erinnerung. Was sich kaum geändert hatte, waren die Charaktereigenschaften, auch die Gesten, das Lächeln. Trotzdem hatte Sarah andere, neue Menschen vor sich. Was die Zeit aus ihnen gemacht hat und wohl auch aus mir …, dachte sie. Sie sah sich selbst immer noch als Dreißigjährige, ihr unbewusstes Selbstbild stammte aus einer anderen Zeit. Deshalb war es alles andere als selbstverständlich für sie, sich selbst – in dieser merkwürdigen Umkehrung – als eine Frau zu sehen, die auf die fünfzig zuging. Die Begegnung mit ihren alten Klassenkameraden war ein Schock.
    Kaum zu fassen, dass der Verrückteste, Wildeste unter ihnen längst ein bekannter Chirurg war. Dass die Klügste, der man eine brillante Karriere vorausgesagt hatte, das Studium aufgegeben hatte, um zu heiraten. Sie hatte fünf Kinder und war dick geworden, schien aber mit sich und der Welt im Einklang.
    Eine Zeitlang machte es Spaß, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen und über die alten Zeiten zu plaudern, doch nach einer Weile

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