Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
erforschen und ihre Gesetze zu unserem Segen und Verderben zu nutzen. Wir schreiben Gedichte, komponieren Musik, malen Bilder und berühren damit. Wir philosophieren über uns und die Welt. Aber all diese Fähigkeiten und Einsichten verändern nicht unseren Charakter und den Teppich aus Emotionen und Trieben, auf dem er basiert. Kein noch so kluger und phantasiebegabter Mensch ist gefeit vor Wut, Geiz, Neid, Niedertracht oder triebhaften Veranlagungen, andererseits kann ein einfältiger Mensch von einer Sanftheit und Gutherzigkeit sein, die beschämen. Ich glaube, der freie Wille ist eine Schimäre. Die Gefühle und Neigungen sind die wahren Triebkräfte des Lebens. Sie leiten und bestimmen die Persönlichkeit, das Wesen eines Menschen. Sie sind der eigentliche Wille, das „Ding an sich“, wie der Philosoph Schopenhauer es mit diesem Kant’schen Begriff ausdrückt. Wir haben unseren Spielraum, aber nur innerhalb der Grenzen unseres Charakters.
Wir reden und reden, derweil der Abend hereinbricht. Es ist halb acht, und noch haben wir keinen Platz gefunden. Einsam waren die letzten Stunden: keine Dörfer, keine Menschen, nur die Täler und Höhen mit ihren Wäldern und Feldern um uns herum und über uns der weite Himmel. Erst nach acht finden wir auf einer Wiese am Wald ein Plätzchen, das unseren Ansprüchen genügt, gefühlte tausend Kilometer von jeder Zivilisation entfernt.
Ich habe es tatsächlich geschafft. Habe meinen Schweinehund überwunden, bin über meine Grenzen gegangen, habe die Zähne zusammengebissen.
Ein gewaltiges Loch klafft in meiner Hornhaut an der rechten Ferse, aber die Flüssigkeit ist abgelaufen. Ich muss den größten Teil davon beim Wandern aus der Wunde, die ich mir zugefügt habe, herausgequetscht haben. Die Haut unter der Hornhaut ist rosa, fast noch rohes Fleisch – durch bin ich damit noch nicht. Aber ich habe jetzt zehn Stunden Ruhe, und die Heilsalbe wird auch einiges richten.
Ja, mein lieber Hape Kerkeling, was muss ich leiden, um den Pfad der Erleuchtung zu erklimmen, den du so leicht gefunden hast, sitzend in einem Kloster, nachdem du mit dem Bus gefahren bist. So ähnlich war es doch!? Bist du nicht immer mit dem Bus gefahren, wenn das Wandern schwierig wurde, und hast doch nur an das nächste Törtchen gedacht? Du hast dich gedrückt vor dem gemeinsamen Lager mit all den Pilgern, weil es dir zu unbequem war. Ich aber sitze hier auf einer schmalen, zwei Zentimeter dicken Matte am Waldesrand, umgeben von Mückenschwärmen. Muss das Autan nahezu inhalieren, damit mir das Viehzeug nicht auch noch den Darm zersticht. Ich habe mich heute fast um den Verstand gelaufen, einen Höllenritt durchlitten und bin doch angekommen. Dennoch, lieber Hape, eines habe ich dir voraus: Gott ist direkt über mir, oben am Himmel dieser gewaltigen Kathedrale, in der ich nächtige, und es ist köstlich zu genießen – den Wein, das Brot, die aufkommende Nacht über Wald und Flur –, wenn man gelitten hat und die Anstrengung weicht.
Die Erschöpfung treibt mich in den Schlafsack, und schon bald folge ich meinem Wanderbruder in das Reich der Träume.
Früh bin ich auf den Beinen. Es ist noch dunkel zu Beginn des Überganges von der Nacht zum Tage. Nur ein schwacher, kaum wahrnehmbar rötlicher Schimmer über dem Wald am Ende der Wiese deutet ihn an. Fledermäuse flattern lautlos, die Vögel schlafen noch. Trotz der frühen Stunde ist es schwül. Kein Hauch bewegt die Luft, kein Tau benetzt das Gras, keine Sterne leuchten am Himmel. Ab und an wetterleuchtet es geisterhaft, und aus der gestaltlosen Dunkelheit der Nacht schneidet der Widerschein der Blitze für den Bruchteil von Sekunden schwarze, messerscharfe Silhouetten von Hügeln und Wäldern und dem Wolkengebräu darüber. Mich drängt es weg von hier, getrieben von einer seltsamen Unruhe.
Das Wetterleuchten rückt näher. Seltsamerweise donnert es nicht, so als ob sich das Unwetter anschleichen wollte. Ich haste davon, den Rucksack nicht einmal richtig umgeschnallt. Stürze über die Wiese, die sich dehnt und dehnt, kann mich kaum orientieren. Nur wenn die grellen Blitze die Dunkelheit zerreißen, sehe ich den Raum vor mir, der sogleich wieder von einer tiefen Schwärze verschluckt wird. Dann entladen sich die Blitze direkt über der Wiese, stehen für einen kurzen Moment wie Feuersäulen zwischen Himmel und Erde, verzweigen sich an ihrem Ende in gleißende Tentakel, die nach Opfern ihrer todbringenden Ladung suchen. Panik ergreift mich,
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