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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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Straße lungern Hunde, eine Katze räkelt sich auf einer Auffahrt in der späten Sonne, ein paar Hühner rennen aufgeregt gackernd ins nahe gelegene Gebüsch. Von einem Hof fliegt ein Ball über die Straße, ein Junge eilt hinterher, ohne nach links und rechts zu schauen, und irgendwo macht jemand ein Feuer. Man riecht den Duft verbrennenden Holzes. Es ist die beschauliche, ländliche Idylle eines kleinen Dorfes an einem späten Nachmittag im Frühsommer in der bayerischen Provinz.
    Eine knappe halbe Stunde später stehen wir vorm Berggasthof Sammüller und sitzen kurz darauf in einem herrlichen Biergarten über den Dächern von Neumarkt. Und als die Sonne glutrot zwischen den Kastanien untergeht und den Himmel verzaubert, sitzen wir noch immer da und schauen und trinken – schauen verzückt in die hereinbrechende, duftende Nacht und trinken auf das Glück, das uns beschieden ist.

V ERZWEIFLUNG
UND DIE R ÜCKKEHR
DES G AMASCHENMANNES
    SONNTAG, 25. MAI
NEUMARKT I.D. OBERPFALZ – NAHE HENNENBERG
(KURZ VOR DEM MAIN-DONAU-KANAL), 29 KM
    Aus dem Tal erklingen die Glocken der Kirchen von Neumarkt. Wir sitzen unter einer Kastanie beim Frühstück, schauen hinunter in das Städtchen und genießen den herrlichen Sonntagmorgen. Der Wirt setzt sich zu uns und fragt uns aus. Er ist ehrlich interessiert an unserer Wanderung, spendiert sogar zwei Lunchpakete für den Mittag und holt dem lieben Martin seine Wanderstöcker, die er im Zimmer vergessen hat. Ein freundlicher Bayer – geht doch!
    Und wieder sind wir unterwegs. Tag um Tag marschieren wir Richtung Süden, unablässig, schon beinahe vier Wochen lang, und doch ist das Ziel noch so fern.
    Der Weg führt uns hinunter nach Neumarkt. Es ist still in der Stadt, wir sind allein. Doch – dort, auf der anderen Seite, geht jemand die Straße hinauf, die weiter oben in den Wald mündet. Eine Frau mit filzigen Haaren, einem zerschlissenen, langen Rock und mehreren Plastiktüten in den Händen schlurft gebeugt und müde des Weges. Wenig später folgt ihr ein Mann mittleren Alters mit einem tonnenschweren Bauch und einem Krückstock in der Hand. Seine Oberschenkel reiben aneinander, sein Gang ist schwer. Die schwarzen Haare hängen ihm fettig und strähnig bis auf die Schultern. Als Martin ihn nach dem Weg ins Zentrum fragt, öffnet sich ein Mund, in dem die Schneidezähne fehlen. Schwer atmend bekommen wir eine nuschelige, unpräzise Antwort.
    Es wirkt so, als ob die Gestrandeten die Stadt verlassen. Des Nachts haben sie sich an den Abfällen der Wohlhabenden genährt, und nun am Morgen fürchten sie den Tag und die Blicke der Bürger. Wie Geächtete streben sie der Dämmerung des Waldes zu, leben als Schattenwesen am Rande der Gesellschaft, verkriechen sich wie Ratten. Ihr Gang wird vom Geläut der Glocken begleitet, wie ein Signal, das sie auffordert, sich zu beeilen.
    Wir kommen an einer staatlichen Realschule für Mädchen vorbei. Jetzt bin ich wirklich überrascht. Das gibt es bei uns im Norden schon lange nicht mehr. Irgendwie sind die Bayern doch anders als die Preußen – konservativer, zumindest dort, wo sie katholisch sind. Menschen sind sie allerdings beide.
    Mein rechter Fuß macht mir Schwierigkeiten. Gestern hat sich das schon angedeutet. Die Ferse pocht und sticht beim Auftreten. Es fühlt sich nicht gut an. Wenig später beginne ich zu humpeln und komme immer langsamer voran. Es ist schlimm, wie meine Wahrnehmung von diesen Schmerzen dominiert wird und zunehmend mehr Aufmerksamkeit sich auf diese eine Stelle richtet. Jeder Schritt wird allmählich zur Qual.
    Ich schaffe es bis ins Zentrum und in eine Kirche hinein. Die ist jedoch rappelvoll, so dass wir gleich wieder hinausgehen. Auf dem Marktplatz sinke ich erschöpft auf eine Bank, es geht einfach nicht mehr. Martin will Geld besorgen. Ich müsste das eigentlich auch, bin aber nicht imstande dazu. Ich ziehe meinen rechten Stiefel und die Socke aus und schaue auf eine dicke, fette Blutblase, die sich unter der Hornhaut der Ferse gebildet hat. Wenn ich mit dem Finger darauf drücke, ist der Schmerz bereits unerträglich. Irgendwie muss ich die Blase aufkriegen, um mir Erleichterung zu schaffen. Mit einer der Spitzen einer Nagelschere steche ich hinein, aber ich komme nicht tief genug, versuche es wieder und wieder, bis ein wenig Flüssigkeit abläuft. Es ist ein beinahe masochistischer Akt.
    Jetzt habe ich auch noch eine Wunde. Am liebsten würde ich meinen Fuß in das Brunnenbecken gegenüber halten –

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