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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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kostbar und so besonders, und ich bin sicher, dass wir immer wieder sehnsüchtig an diese einzigartigen Momente denken werden.
    Martin schläft bereits. Ich liege in meinem Schlafsack und betrachte den Himmel. Die Grillen haben aufgehört zu zirpen, die Vögel schweigen, Fledermäuse flattern durch die Dämmerung. Das Farbenspiel über mir verblasst, und die Schwärze der Nacht senkt sich zu uns herab und hüllt das Land in Dunkelheit. Einzelne Sterne flammen auf. Nach und nach werden es mehr und mehr. Die Luft ist durch die Schauer, die hier und dort am Tage niedergegangen sind, klarer als in den Nächten zuvor, und der Mond ist noch nicht aufgegangen.
    Wann habe ich das letzte Mal solch einen Sternenhimmel gesehen und hatte die Muße, ihn so lange zu betrachten, bis mich der Schlaf übermannt? Das gezackte Band der Milchstraße liegt direkt über mir, das Zentrum unserer Galaxie, Abertausende von Lichtjahren entfernt. Ich sehe das Sternbild des Schwans, den Großen und den Kleinen Wagen, Kassiopeia – das Himmels-W –, und in der Tiefe des Kosmos erkenne ich das Glitzern einer anderen Galaxie: den Andromeda-Nebel.
    Alles ist so erhaben, so still und ewig, und scheint so harmonisch in den immer gleichen Mustern am Firmament zueinanderzustehen. Es ist wunderschön, aber in Wirklichkeit ist es eisig, dort, wo die Dunkelheit herrscht, und von einer Höllenglut, wo das Licht der Sterne seinen Ursprung nimmt, und alles ist in Bewegung, dreht sich um sich selbst und um das Zentrum seiner Galaxien, die wiederum mit irrwitziger Geschwindigkeit auseinanderstreben. So wird unser Universum immer größer und größer und tiefer und tiefer, von einer Dimensionalität, die schier unfassbar ist. Seit 14 Milliarden Jahren geht das nun schon so, und all die Größe und die Zeit waren notwendig, damit das Leben und am Ende wir entstehen konnten.
    Man muss sich einfach angesichts dieser gewaltigen, majestätischen Kuppel aus unzähligen unerreichbaren Lichtern und dem schwarzen bodenlosen Nichts, in das sie eingebettet sind, fragen, wer der Schöpfer all dessen ist und wozu es gut sein soll. All das für uns? Eine gigantische Schmiede, um einen winzigen Planeten mit Leben zu beschenken?
    Es gibt viele Antworten, und keine ist befriedigend, weil niemand weiß und jemals wissen wird, wie es wirklich angefangen hat und ob wir wirklich alleine sind in diesem bodenlosen Raum, dessen Grenzen wir nicht auszuloten vermögen.
    Ich bin müde! Noch in Abermillionen Jahren wird der gleiche Himmel über dieser Erde stehen – auch ohne uns. Ist das tröstlich?

    Ich bin, ich weiß nicht wer.
Ich komme, ich weiß nicht woher.
Ich gehe, ich weiß nicht wohin.
Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.
    (Angelus Silesius, 1624-1677)

B ETRUNKEN
    SONNTAG, 1. JUNI
KURZ HINTER GOSHEIM – DONAUWÖRTH, 27 KM
    Die Nacht war leidvoll. Bin immer wieder aufgewacht: die Matratze nur noch zur Hälfte unter mir, das Kopfkissen im Dunkeln verschwunden. Außerdem war es mal wieder zu heiß im Schlafsack.
    Es ist immer dasselbe Spiel. Dennoch fühle ich mich gestärkt. Als Pilger muss man auch mal mit wenig Schlaf und Gottvertrauen auskommen, immerhin sind wir auf dem Jakobsweg unterwegs. Für’s Erste wird’s gehen, doch irgendwann müssen wir frühstücken.
    Der Himmel ist stahlblau, kein Wölkchen ziert ihn, die Hitzewelle will kein Ende nehmen. Jeder geht für sich, genießt, so gut es geht, den sonnigen, fröhlichen Morgen – weit weg von der Zivilisation, so nah an der Natur, wie es nur sein kann. Die Grenze, die ich gestern vernahm, hat sich verschoben. Ich spüre sie nicht mehr und ahne auch nicht ihre Nähe.
    Wir laufen entlang des äußersten, südwestlichen Zipfels der Fränkischen Alb mit Blick auf die Schwäbische Alb, die den Höhenzug nach Südwesten fortsetzt. Nach eineinhalb Stunden liegt – noch ein gutes Stück Wegs vor uns – weit sichtbar auf einem vorgeschobenen Höhenrücken die Burg Harburg. In einer Senke davor der Ort Ronheim.
    Hier finden wir unser Frühstücksrestaurant und wandern gesättigt und gepuscht vom Kaffee hinauf in das kleine Städtchen Harburg, dem Endpunkt des Frankenweges, auf dem wir zwei Wochen lang unterwegs waren. Es ist wie ein kleiner Abschied. Nun wird sich das Landschaftsbild ändern, und wir sind neugierig darauf.
    Eine schmale Straße führt am Rande des Ortes am oberen Saum eines Hanges auf die Burg zu, vorbei an zwei Kirchen, deren Glocken zum Gottesdienst rufen. Orgelspiel dringt aus dem geöffneten

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