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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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eine flüchtige Welt, zu der man nicht gehört und die einem dennoch vertraut ist, weil der Stoff, aus dem sie gewebt, auch jener ist, aus dem man selbst gemacht ist.
    Wir vermissen nicht den Lärm der Stadt und fürchten uns nicht vor der Stille, die jenseits unserer Wandergeräusche den Wald durchdringt.
    Erst nach über einer Stunde gelangen wir wieder auf freies Feld. Eine dunkle Wolkenwand steht über den grünen Feldern und den sanften, bewaldeten Hügeln dahinter. Durch eine Spalte in ihrer Mitte fällt schräg ein Streifen Sonnenstrahlen, und dort, wo sie das Land berühren, flammt es hell auf – in lichtem Grün unter einem schwarzblauem Himmel. Wunderschön sieht das aus. Ob es gleich regnen wird, kommt mir gar nicht in den Sinn, zu gefesselt bin ich von dem Naturschauspiel.
    Unser Pfad steigt nun an und schlängelt sich am Waldrand entlang. Dort, wo sich niederes Gebüsch und der Wald in einem rechten Winkel treffen, breitet sich ein Stück Grasland aus, ein Plätzchen, wie geschaffen für unser Nachtlager.
    Wieder einmal ist es geschafft. Die Tagesetappe liegt hinter uns, und vor uns das, was wir so zu schätzen gelernt haben: die Übernachtung im Freien. Das Gelände senkt sich leicht in eine Ebene hinein, in der sich außer einigen Stallungen nur Felder und Wälder befinden. Am Horizont wird sie begrenzt von einem Höhenzug. Wir befinden uns am Ostrand des Nördlinger Rieses, jenes Beckens, das vor Jahrmillionen durch einen Meteoriteneinschlag geschaffen worden ist.
    Die Luft ist weich und mild, die Sonne steht tief über dem Horizont, uns direkt gegenüber.
    Beim Auspacken erwischt uns ein Schauer, der aus grauen Wolken fällt, die vom Wald her plötzlich über uns aufziehen. Martin flüchtet mit all seinem Gedöns auf eine geschützte Bank am Waldrand. Ich bleibe, wo ich bin. Stopfe den Schlafsack in den Rucksack, werfe mir die Pelerine über, hocke mich hin und harre der Dinge, die da kommen. Einige Minuten gallert es heftig, dann hört es plötzlich auf, und die Wolken verziehen sich ebenso schnell, wie sie gekommen sind.
    Noch scheint die Sonne, und warm ist es auch. Die trockene Erde saugt die Feuchtigkeit schnell auf, nass bleibt eigentlich nur das hohe Gras. Wir errichten unser Nachtlager auf den zuvor niedergetretenen Halmen, und dann ist es wieder so weit: Wir sitzen auf unseren Schlafsäcken, jeder eine Flasche Wein in der Hand, prosten einander zu, um uns herum die Natur, über die sich ein wunderschöner Sommerabend wölbt.
    Die hohen, von rotblühenden Pflanzen durchsetzten Gräser bewegen sich sanft im Wind, wie das Präriegras ferner Steppen. Der Blick geht weit hinüber zu dem sich im Dunst verlierenden Horizont, hinter dem die Sonne verschwunden ist. Dämmerung überzieht das Land, lässt es unberührt und archaisch erscheinen. Wieder ist es wie in Afrika. Herden von Giraffen, Antilopen und Zebras äsen dort unten, ich kann sie fast sehen. Ich weiß nicht, woher sie kommt, diese Sehnsucht nach dem weiten Land unserer Urahnen. Es ist so, als ob bestimmte Stimmungen und Bilder fest in unseren Genen verankert seien, als ein atavistisches Muster, welches sich in den Hundertausenden von Jahren, die der Mensch in den Steppen und Wäldern Afrikas zugebracht hat, in uns eingegraben hat. Aus tiefster Tiefe tauchen dann die Erinnerungen auf, wenn unsere Sinne von Eindrücken berührt werden, die diesem Muster ähnlich sind. Vielleicht ist es so. Ich weiß keine andere Erklärung.
    Der Himmel ist in eine Sinfonie von Farben getaucht: rot und violett, wo er das Land berührt, schwarz, wo langgestreckte Wolkenbänke ihn bedecken, zartrosa in den Flächen dazwischen und blassblau, wo der scheidende Tag ihn noch zu durchbrechen vermag. Über uns graue Fetzen abziehender Regenwolken und dort, im Westen, wo Tag und Nacht sich noch die Waage halten, steht ein fahles Licht. Welch eine verzauberte Stimmung! Welch unglaubliche Weite! Welch grandioses Licht- und Farbenspiel!
    Meine Güte, da sitze ich nun, schaue und weiß nicht, wie mir geschieht!
    Martin summt eine Melodie aus dem Lied „Der Fremdling“, vertont von Franz Schubert:

    Wo bist du, mein geliebtes Land?
Gesucht, geahnt, doch nie gekannt (…)

    Ich wandle still, bin wenig froh,
Und immer fragt der Seufzer: Wo?
Mit Geisterhauch ruft’s mir zurück:
Da, wo du nicht bist, ist das Glück!
    (Georg Philipp Schmidt von Lübeck, 1766-1849)
    Das klingt schön und traurig, und es hat einen tiefen Sinn!
    Ja, diese Abende gehören uns. Sie sind so

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