Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
und ich wende mich brüsk ab. Den interessiert überhaupt nicht, wer wir sind, woher wir kommen und was wir vorhaben. Wir verabschieden uns knapp und lassen die beiden stehen.
Der Wald vereinnahmt uns, wird immer einsamer. Die Wege verlieren sich, wir folgen nur noch angedeuteten Pfaden.
Der Oderwald ist ein kleiner Höhenzug, der sich auf den Harz zu streckt. Wir müssen das erste Mal Steigungen bewältigen. Die ungewohnte Gangart bergauf nimmt uns in Anspruch und unsere Gespräche ersterben. Meine Wunde im Schritt macht sich wieder bemerkbar, da durch das veränderte Gehen die Naht meiner Shorts an dem Schorf reibt. Im Handumdrehen ist sie wieder aufgerieben, und der Schweiß läuft in sie hinein. Meine Güte, was ist das für ein beißender Schmerz. Ich fange an, breitbeinig zu laufen und ziehe mir die Hose so weit runter, dass es aussehen muss, als laufe hier ein zugedröhnter Skater durch den Wald. Schließlich halte ich es nicht mehr aus, öffne die Hose und beherzige nun ein altes Allheilmittel, von dessen Wunderwirkung mir mein Schwiegervater und auch die Pilgerin berichtet haben. Ich pinkele in meine rechte gewölbte Handfläche und führe sie in den Schritt – zwei, drei Mal.
Erstaunlicherweise brennt das gar nicht so stark, wie ich erwartet habe. Natürlich verschütte ich dabei die Hälfte in meine Kleidung – ich bin echt bedient. Nachdem die Wunde getrocknet ist, kommt noch ein wenig Mirfulan drauf, und ich zieh’ meine Shorts nun ganz aus. Wir werden in den nächsten zwei, drei Stunden eh keinen Menschen treffen. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes Erste Hilfe im Busch.
Es geht weiter, ich in Unterhose, langsamer als sonst, aber erleichtert. Wir verlieren unseren Treck auf dem Display des Navis. Dort, wo wir laufen, geht selten jemand. Teilweise sind die Wege zugewachsen, oder sie existieren überhaupt nicht mehr. Schließlich erreichen wir einen schmalen Pfad auf dem nach Süden führenden Höhenrücken, und durch Zoomen des Navis kann ich erkennen, dass er in die richtige Richtung führt, und sehe auch unser zyanblaues Treckband etwas abseits verlaufen.
Die Zeit vergeht, niemand außer uns ist hier unterwegs.
Links und rechts des Gratweges fallen die mit Laubbäumen bewachsenen Hänge sanft ab und verlieren sich im tiefen Grün. Soweit das Auge reicht, überzieht satt riechender, leuchtend weißblühender Bärlauch den Waldboden. An manchen Stellen steht er so dicht, als ob weiße Wolken über dem Waldgrund schwebten. Über mir wölbt sich das Blätterdach in unendlichen Grünschattierungen, durchbrochen von Fetzen des mildblauen Himmels. Sonnenstrahlen finden ihren Weg durchs Geäst und werfen ein filigranes Netz aus Licht und Schatten auf den Boden. Die Blätter der Bäume wispern im leichten Wind, und darüber liegt der Gesang der Vögel. Ich bleibe stehen und bin wie erstarrt von dieser herzzerreißenden Schönheit. Ein überbordendes Glücksgefühl breitet sich in meinem Herzen aus. Es ist, als ob der Wald mit mir spräche. Ich fühle mich stark und jung, und alle Zeit ist von mir gewichen. Der Augenblick dehnt sich und wird zur unablässigen Gegenwart. Er ist wie Musik, die schon mit ihren ersten Takten ein Fenster zu einer anderen Welt aufschlägt – so eine wie diese.
Dieser Glücksrausch hat mich mit einer Wucht getroffen, dass ich um Fassung ringe. Wie wunderbar ist das Leben, wie berauschend das Staunen über die Schönheit der Natur. Wie gelingt es bloß, einen Menschen so zu beschenken.
Ich lasse mich nieder, lehne mich gegen einen Baum und weine still. Diese Unmittelbarkeit und Intensität der Lebensbejahung, verbunden mit dem Gefühl, dass nichts auf der Welt sie zerstören kann, habe ich gesucht und hier – wenn auch nur für einen kurzen Moment gefunden. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er in diesem Moment hier. Es ist wahrhaftig ein heiliger Augenblick, und ich verspüre eine grenzenlose Freiheit.
Die Seele des Wanderns hat sich mir das erste Mal offenbart.
Martin setzt sich zu mir. Schweigend hocken wir nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken unterwegs. Dann passiert etwas, dass das einzigartige Erlebnis zu einem Märchen werden lässt. Urplötzlich, ohne Ankündigung irgendeines Geräusches teilt sich das Dickicht, und ein Schimmel mit einer weißgekleideten Frau mit weißem Hut und weißen Stiefeln reitet langsam auf uns zu. Wir starren sie mit offenem Mund an. Es ist, als ob Galadriel, die Elbenkönigin, dem „Herrn der Ringe“ entstiegen sei. Die Szene passt
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