Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
so selbstverständlich in diese Traumwelt, dass ich an ihrer Realität nicht zweifle. Die Dame auf dem Pferd grüßt knapp und fragt uns nach einem entlaufenen, braunen Pferd. Wir schütteln den Kopf, und schon verschwindet sie wieder im Wald. Wenn sie nicht so viel älter als Galadriel gewesen wäre und aus der Nähe nicht doch sehr menschlich ausgesehen hätte, hätte ich an eine Erscheinung geglaubt und möglicherweise meinen Gang als Mönch in das nächstgelegene Kloster angetreten, um in spiritueller Einsamkeit dem Sinn meiner Erleuchtung bis ans Ende der Tage nachzuhängen. Dennoch hatte diese Begegnung im Kontext meiner wunderbaren Verzauberung etwas Mystisches, so, als wenn sie beabsichtigt gewesen sei, um ein Zeichen zu setzen.
„Lass uns weitergehen, Wolfgang. Wir müssen noch ’ne Ecke wandern“, reißt mich Martin aus meinen Gedanken.
Der Zauber trägt mich eine ganze Weile. Leicht und unbekümmert marschiere ich nun vor Martin den Kammweg entlang. Meine Hose habe ich mir wieder angezogen. An einem Turm im Wald nehmen wir unser verspätetes Mittagsmahl ein: mit Wurst und Käse belegte Brötchen, die wir bei meinem Bruder am Morgen geschmiert haben. Wir sitzen entspannt auf einer Bank an der Turmmauer, die Köpfe an das Gemäuer gelehnt, und sinnieren – durch und durch zufrieden, so reich belohnt mit diesem wunderschönen Waldweg und jener unglaublichen Verschmelzung mit der Natur, die mich bis ins Mark getroffen hat.
Bis auf kleine Nickeligkeiten und einen Streit sind Martin und ich bisher freundschaftlich miteinander gewandert. Vielleicht ist ja die Gegensätzlichkeit unserer Charaktere tatsächlich ein Plus für das gemeinsame Unterfangen. Martin jedenfalls hat nicht den Ehrgeiz, eine dominante Position einzunehmen, er akzeptiert meine Führungsrolle, und das macht vieles einfacher. Marschtempo und Pausen ergeben sich ohne große Diskussion, und die Verzögerungen durch meine Beschwerden nimmt er stoisch hin.
Irgendwann ist jeder Wald zu Ende und auch ein Stimmungshoch verblasst, noch einmal gepuscht von einem grandiosen Finale: Nach einer Linkskurve bleiben die Bäume zurück, und wir blicken in ein Tal, übersät von Wiesen und Rapsfeldern. Dahinter erstreckt sich mächtig, als ein blaugrünes Band, der Harz mit seinem höchsten Berg, dem Brocken. Wir sind am Ende der norddeutschen Tiefebene angelangt, haben soeben einen der, wie mir scheint, schönsten Wälder durchschritten und stehen nun vor dem ersten Mittelgebirge, das sich auf seiner Nordseite tausend Meter in die Höhe reckt und uns majestätisch grüßt. Eine Bank bietet sich zum Verweilen an, und wir genießen die phantastische Aussicht. Das erste Mal greife ich während der Etappe zu meinem Handy und rufe begeistert und glücklich meine Frau an. Ich muss meine Gefühle einfach teilen, und ich weiß, dass sie es annimmt.
Als wir weitergehen, sehen wir in einiger Entfernung unter uns einen Ort. Ich bin mir sicher, dass es Schladen ist, wo wir übernachten wollen. Es ist inzwischen auch fünf Uhr nachmittags, und das würde passen. Beschwingt erreichen wir das Dorf, aber es ist nicht Schladen. Ein Blick aufs Navi offenbart uns weitere fünf Kilometer Fußmarsch, und die haben es in sich. Hügel reiht sich Hügel an – willkommen in der Realität. Verflogen ist der Zauber und der Blick für die Bilderbuchlandschaft. Füße, Rücken und Schultern melden sich schmerzhaft zurück. Das Tempo wird durch die anstrengenden Aufstiege gebremst, und der betonierte Weg tut sein Übriges. Mit Ach und Krach erreichen wir Schladen, wandern müde an der berühmten Schlangenfarm vorbei und suchen im Ort eine Bleibe. Nach einigen frustrierenden Runden entdecken wir endlich einen Pensionsbetrieb.
Fast wäre die Übernachtung in einem Fiasko geendet, denn zunächst will uns die Wirtin abweisen. Als nach dem Klingeln die Tür geöffnet wird, steht uns ihr Mann gegenüber und empfängt uns freundlich. Doch nach der Bitte um ein Zimmer für eine Nacht hören wir aus dem Hintergrund ablehnendes Gemurmel.
„Wir sind Fernwanderer, und Sie sind unsere einzige Chance. Wir kommen aus Hamburg“, rufe ich hinein.
Sie wird neugierig und tritt in die Tür, mustert uns. Auffällig geschminkt, rotgefärbte Haare, etwas stoffarm – so steht sie da. Eine unsichere Endvierzigerin mit umwölktem Blick und einer melancholischen Ausstrahlung. Komisch, dass ich das immer so sehe, aber so scheint es mir nun mal. Sie lässt sich erweichen, gibt uns aber nur ein
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