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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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zuteil.

A NKUNFT IM H ARZ
    MONTAG, 5. MAI
SCHLADEN – TORFHAUS (HARZ), 29 KM
    Wie immer, wenn wir zusammen nächtigen, ist Martin bereits seit einer halben Stunde zugange, bevor ich aufwache. Akribisch packt er seine Sachen und ist geschäftig im Zimmer unterwegs. Dennoch bin ich meist mit ihm zusammen fertig, und wir begeben uns mit unserer Ausrüstung hinunter zum Frühstück, wieder einmal die einzigen Gäste. Unsere Wirtin scharwenzelt um uns herum, und mir schwant nichts Gutes. Einen ruhigen Start in den Morgen wird es wohl auch heute nicht geben, und es kommt, wie es kommen muss. Sie stützt sich am Nachbartisch ab und hebt an zu erzählen: von Gästen, die alles bemäkeln, mit ihr um Preisnachlass feilschen, und wie schwer es fällt, dabei die Contenance zu wahren. Am Ende wissen wir von Leid und Freud ihres Geschäftsalltages, und so mancher herbe Schlag war dabei.
    Sie wirkt so zart und zerbrechlich. Es ist, als ob ihre adrette Kleidung und das auffällig geschminkte Gesicht eine gewisse Schwermut, die ihr anhaftet, übertünchen sollen.
    Unser erster Gang nach dem vorzüglichen Frühstück führt in die Apotheke. Wir brauchen Leukosilk für unsere Füße, und ich benötige Mirfulan für meine Schrittwunde. So richtig geholfen hat die Urinkur nicht, geschadet hat sie aber auch nicht.
    Vor uns erhebt sich wie eine Mauer der Harz und wird von der noch im Osten stehenden Morgensonne bestrahlt. Die Luft ist klar und kühl, und die Konturen der Bergkette leuchten überdeutlich und scheinen zum Greifen nahe. Durch Äcker und Wiesen führt der Weg unablässig an das Gebirge heran und verschwindet nach etwa zehn Kilometern in einem bewaldeten Höhenzug, nimmt uns mit in die geheimnisvolle Stimmung, die sofort, wie am Vortag, eine andere Welt entstehen lässt.
    Wieder sind es der Zauber eines schmalen, von dichten Laubbäumen gesäumten Kammweges und die feierliche Stille, die mein Herz öffnen und meine Wahrnehmung verändern. Ich lausche dem Wispern des Waldes, und er erzählt mir vom Wesen des Wanderns, von jener Freiheit, die einen durchdringt, wenn man loslässt und wie ein Kind durch den Tag streift, im Einklang mit sich und der Welt, versunken nur in das gegenwärtige Tun und Sein. Es wird alles so leicht und einfach, und das trägt einen durch den Tag und mich trotz aller Beschwerden durch dieses Land. Die ständige körperliche Betätigung wirkt wie ein Stimmungsaufheller, auch wenn man zwischenzeitlich auf dem Zahnfleisch kriecht. Dieser über weite Strecken gleiche Rhythmus hat etwas Beruhigendes, Ausgleichendes und Heilendes.
    Als wir den Wald nach zwei, drei Stunden verlassen, ist es, als verließen wir einen geheimnisvollen Raum. Die Öffnung des Weges in die Feldmark erscheint wie ein Tor, welches man durchschreitet, hinter sich wieder schließt und das ins Freie führt. Dieser Moment des Übergangs von der schattigen Kühle des Waldes in die sonnendurchflutete Wärme des offenen Geländes hat etwas Besonderes, so wie das Verlassen einer dämmrigen, stillen Kirche an einem lichten Tag wie ein Phasenübergang in eine andere Welt anmutet.
    Ein Trecker rattert vorbei, ein geteerter Parkplatz tut sich auf, in der Ferne pfeift eine Lokomotive. Für einen kurzen Moment habe ich Schwierigkeiten, diese Realität anzunehmen, kneife die Augen zusammen und bin dann wieder im Hier und Jetzt. Wir wandern entlang eines Sees, umgeben von mit abertausenden Margeriten übersäten Wiesen, Richtung Vienenburg, und haben uns entschieden, dort mit der Bahn die etwa zehn Kilometer bis nach Bad Harzburg zu fahren, um unser diesmal vorgebuchtes Nachtquartier in Torfhaus im Oberharz noch an diesem Tag zu erreichen. Wir haben uns wohl bei der Planung für diesen Streckenabschnitt etwas verpeilt.
    Der Bahnhof in Bad Harzburg liegt am Nordrand der Stadt, so dass wir diese leider durchqueren müssen. Ein Bus kommt, nachdem wir bereits mit der Bahn gefahren sind, nicht in Frage. Wir schwören uns, ab jetzt nur noch dann ein Verkehrsmittel zu nutzen, wenn wir von der Strecke, beispielsweise zwecks Übernachtung, abweichen müssen, oder wenn einer von uns halbtot am Wegesrand liegt.
    Am anderen Ende der Stadt gibt es einen Kabinenlift, der uns in ungefähr 400 Meter Höhe trägt. Seilbahnen gehören nun wirklich nicht zu den verbotenen Beförderungsmitteln, sie fallen, wie Wanderstöcker, unter die Kategorie Aufstiegshilfen.
    Der Charakter der Landschaft ist komplett verändert. Wir wandern auf zumeist breiten Forstwegen immer

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