Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
ich sie liegen lassen oder zwischendurch verloren. Jetzt muss ich mich mit meinem schweißtreibenden Zweitkäppi begnügen. Wenn die Sonne darauf knallt, habe ich das Gefühl, unter der Haube bildet sich purer Wasserdampf, der nach und nach zu Wasser kondensiert, mein Gesicht flutet und die Augen aus den Höhlen treibt. Der salzige Schweiß beißt und brennt und fördert zusätzlich literweise Tränenflüssigkeit. Wenn dann noch die fetten, grüngolden glänzenden Schmeißfliegen, die am liebsten in Rudeln auf dunstigem Kot hocken, dich und dein Gesicht zu hunderten umschwärmen oder sich gar darauf niederlassen, wird das Bedürfnis nach Zivilisation übermächtig: nach einem Bad, frischer Kleidung, dem Duft eines verhaltenen Parfums und nach einem kalten Bier.
Doch irgendwann ist mir dieser Zustand auch egal: Ständiges Wedeln mit der Hand vertreibt die Fliegen, und mit einem Tuch wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Es wird zur Routine, und ich gewöhne mich dran. Back to the roots – zurück zu den Anfängen, als der Mensch noch mit den Fliegen lebte oder die Fliegen auf dem Menschen lebten. Jedenfalls kann man sich, wenn man so unterwegs ist wie wir, der Natur nicht entziehen, und zimperlich darf man schon gar nicht sein.
Wir sind schon wieder lange aus dem Wald heraus, und ich laufe jetzt an einem zwei- bis dreihundert Meter langen und über zwei Meter hohen Misthaufen entlang, der direkt den Feldweg säumt. Eine blauschwarze Brühe suppt aus ihm heraus und bildet kloakige Pfützen. Es stinkt erbärmlich, und die Fliegen sind eine Plage.
Die Landschaft des südlichen Eichsfeld ist anders. Hier spürt man noch den Einfluss der DDR mit ihren landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Riesige Ackerschläge überziehen den Boden, winden sich über die Hügel und verschwinden hinterm Horizont. Es gibt weniger Wälder und auch weniger Hecken. Die riesigen Wiesen allerdings bieten ein grandioses Bild. Myriaden gelber Butterblumen vermischen sich mit dem saftigen Grün, und je weiter die Wiese sich streckt, desto dichter dieser gelb-grüne Teppich, der am Ende gegen einen blauen Himmel stößt, der sich wie eine gewaltige Kuppel, betupft mit wenigen zarten, weißen Wolken, darüber spannt. Das alles vermittelt eine ungeheure Weite, und ich darf sie bestaunen.
Zeugen der unseligen Vergangenheit gleiten an uns vorbei: heruntergekommene Hallenkomplexe, grau, langgestreckt, inmitten öder Plätze, deren rissige Betonplatten sich übereinander geschoben haben und von Unkraut überwuchert sind – verlotterte Überbleibsel früherer LPGs.
Davor am Wegesrand auf zwei senkrecht stehenden Betonplatten eine aufgedunsene Pressholzplatte mit Resten schmutzig-brauner Plaste, die Ränder lappig und ausgefranst – ein ehemaliger Tisch. Als Bank eine alte, schrundige Holzbohle auf zwei niedrigen, bemoosten Betonsockeln mit einer morschen Holzplanke als Rückenstütze, halb versunken in Brennnesseln und Unkraut. Ein greises, trauriges Ensemble. Zum Weltkulturerbe gehört es wohl nicht, aber in einem Museum für moderne Kunst wäre es eine beeindruckende Installation über das Wirken der Zeit und die Vergänglichkeit der Dinge. Schade, dass wir es nicht mitnehmen können.
Wir erreichen Dingelstädt nachmittags gegen fünf Uhr und organisieren Wein, Brot, Käse und Wurst für den Abend. Eine weitere Nacht im Freien ist angesagt. Doch noch ist es zu früh zum Ablegen. Ich wundere mich über meine Kondition. Heute laufe ich leicht und rund, kann mit den Druckstellen an den Füßen gut umgehen. Den Rucksack merke ich überhaupt nicht. Es ist ein Tag, an dem ich endlos gehen könnte.
Einträchtig wandern Martin und ich durch die Feldmark. Die Sonne steht nun tiefer und mäßigt ihre verzehrende Glut, während der Tag dem Abend entgegen döst. Ein ähnliches Bild müssen die Musiker der norwegischen Band a-ha vor Augen gehabt haben, als sie den wunderschönen, melancholischen Song „Summer moved on“ komponierten.
Wir plaudern über dies und jenes und träumen von einem Fest in einem riesigen Zelt auf einer Wiese. Uns beiden ist nach Geselligkeit und Feiern. Das wäre die Krönung an solch einem Tag. Wahrscheinlich sind wir zu viel alleine.
Ich habe diese Feste immer in vollen Zügen genossen, wegen ihrer Eigendynamik, die so unberechenbar und zügellos sein kann. Sie lassen den Alltag und die Unvollkommenheit des Lebens für eine Weile vergessen. Vergangenheit und Zukunft werden ausgeblendet, alles Sein konzentriert
Weitere Kostenlose Bücher