Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
Vom Netzwerk:
sich auf einen Punkt. Es ist ein Brausen und Wuseln, das pure Leben, welches wie ein Sturm durch das Festzelt rauscht. Die Musik peitscht das Treiben voran, an den Theken werden die Gläser gehoben, man besäuft sich in Rudeln, verliert seinen Partner aus den Augen und begibt sich auf die Jagd – flirtbereit, koste es, was es wolle. Irgendwo fliegen Fäuste, zotige Sprüche machen die Runde. Auf den Toiletten oder vor dem Zelt übergeben sich Betrunkene, in den Ecken knutschen Paare oder kopulieren im Gebüsch oder auf der Toilette –gerade erst zueinander gefunden, derweil der jeweilige Partner sich anderswo herumtreibt. Es dampft und brodelt, Triebe und Emotionen bestimmen den Gang der Dinge. Es wird gefeiert, als wäre es die letzte Party vor dem Jüngsten Gericht.
    Irgendwann ist die Musik aus und das Fest vorüber. Zu Hause fällt man in einen komatösen Schlaf. Am nächsten Tag werden dann mit dem Partner genüsslich die Ereignisse seziert, und manchmal bleiben kleine Geheimnisse.
    Ich erinnere mich an einen Frühlingstag am Chinesischen Turm im Englischen Garten in München. Ich sitze mit meiner Frau und Freunden an einem Biertisch unter Tausenden von Menschen. Neben mir eine achtzigjährige Frau und schräg gegenüber Japaner. Alle stemmen Biere, sind bester Dinge und feiern nur aus einem Grund: wegen der puren Lust am Leben. Eine Maß und noch eine Maß, und die Welt beginnt sich zu verbrüdern. Die alte Dame redet mit den Japanern bayrisch, sie lachen höflich, nicken und antworten japanisch – man versteht sich. Ich bin in bester Stimmung, könnte die Welt umarmen. Der Tag lächelt mir zu und ich lächele zurück. Über uns, auf dem Turm, legt sich die Blaskapelle ins Zeug und brettert den Radetzkymarsch. Tausende von Armen schlagen den Rhythmus, die Augen der Menschen leuchten hinter einem Schleier, den der zunehmende Rausch verursacht. Meine kleine Tochter matscht in einer Pfütze und schiebt sich Süßigkeiten in den Mund. Selig nehme ich sie auf meinen Schoß, die Japaner flirten mit ihr. Es wird gelacht, erzählt, mitgesungen, geschunkelt und vor allen Dingen getrunken. Man vergisst die Zeit und die Welt um sich herum.
    Nicht weit von uns steht ein Schwertschlucker und lässt eine monströse Klinge in seinem Schlund verschwinden. Er wankt und steht nicht sicher. Mit einem röhrenden Rauschen schießt eine Fontäne gelbbrauner Kotze aus seinem Mund und besudelt seine Klamotten. Ekel und Faszination halten sich bei uns und den Nächstsitzenden die Waage – der Stimmung tut das keinen Abbruch. Anschließend begehrt der Schwertschlucker auf wackeligen Beinen mit einem Hut in der Hand den Lohn für seine Kunst. Noch nie habe ich so schnell Münzen den Besitzer wechseln sehen. Der Mann stinkt, an seinen Mundwinkeln hängen Fäden von Erbrochenem, die sich langsam der Schwerkraft beugen. Jeder will ihn schnell wieder loswerden. Vielleicht ist das ja auch sein Trick, um den Hut geschwind voll zu kriegen, und er ist in Wirklichkeit gar nicht betrunken, sondern nimmt vor dem Auftritt einen derben Schluck gegorene Linsensuppe, die er im Mund behält. Na ja – könnte sein, ist aber eher wohl nicht so.
    Irgendwann ist der Kanal voll und der Biergarten leer.
    Am Marienplatz müssen wir hinunter zur U-Bahn und warten in der Tiefe der Katakomben auf die vorletzte Bahn nach Gräfelfingen, wo wir bei meiner Schwester schlafen wollen. Meine Blase ist prall gefüllt, und ich hippele hin und her. Ich muss so was von pinkeln, dass mich der Druck auf die Suche nach einem geeigneten Ort treibt. Aber ich finde nichts und lande schließlich wieder auf dem Marienplatz. In meiner Not stelle ich mich hinter eine Säule. Ich hätte mich ebenso gut davor stellen können – es ist nur eine Frage der Perspektive. Erleichtert trabe ich zurück in den Schacht, aber oh je, ich finde mich nicht mehr zurecht –zu viele Treppen und Stockwerke. Fragen mag ich auch nicht, denn ich spüre, dass meinem Mund lediglich ein sämiger Lautstrom entquellen würde, den niemand verstünde und der mich als Betrunkenen outete. Ich hab’ schon genug damit zu tun, den aufrechten Gang zu koordinieren und die Contenance zu bewahren. Hilf- und orientierungslos eiere ich durch die Stationen, und nur zufällig, drei Minuten vor Abfahrt der letzten Bahn, stoße ich wieder auf meine Familie – they are not amused. Dennoch: Ende gut, alles gut. Es war ein herrlicher, unvergesslicher Tag.
    Der Wunsch nach einem Festzelt erfüllt sich nicht. Die Zeit

Weitere Kostenlose Bücher