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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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vergeht, es ist nach sechs Uhr abends, und endlich schreiten wir wieder in ein Waldstück hinein. Ein wunderbarer Buchenhain mit uralten, riesigen Bäumen empfängt uns, und nach wenigen Metern ist die Welt da draußen versunken. Wir folgen einem schmalen Pfad durch verwunschenes Unterholz, fühlen uns so klein angesichts der gewaltigen Stämme um uns herum. Plötzlich gibt der Wald einen Raum frei, eine Lichtung, über die sich die gewaltigen Kronen der Bäume zu einer mächtigen Kuppel schließen. Blauen Kirchenfenstern gleich leuchtet der Himmel zwischen den Lücken des Blätterdaches, durch die die Strahlen der Sonne schräg wie in eine Kathedrale einfallen. Waldmeisterduft und die Musik der Vögel erfüllen den Raum. Welch eine Kraft geht von diesem Ort aus. Ohne Wälder wäre der Mensch nichts. Eine Weile verharren wir ergriffen, tief berührt von diesem Zauber. Gott weilt nicht nur in den Kirchen. An Plätzen wie diesen, die viel älter als Kirchen sind, hat er sich lange vorher eingerichtet – wenn es ihn denn gibt.
    Am Ende des Waldes erreichen wir Kloster Anrode, hier wollen wir irgendwo übernachten. Eine alte Backsteinkirche mit rotem Ziegeldach, ein Wohnhaus und mehrere Wirtschaftsgebäude, im Halbrund um eine Wiese gelegen, bilden die Klosteranlage. Davor steht eine mächtige, noch im zarten Grün stehende Trauerweide. Kein Mensch weit und breit. Die Anlage ist geschlossen. Vor circa 750 Jahren haben Zisterzienserinnen das Kloster gegründet. Über 500 Jahre hat es bestanden und wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts säkularisiert. Es diente dann mit seinen Ländereien der Landwirtschaft, war 1950 bis 1990 eine Seilerfabrik und schläft heute den Dornröschenschlaf.
    Auf die Wiese des Klostergartens wollen wir uns nicht legen, der Platz ist uns zu exponiert. Also weiter.
    Durst und Müdigkeit melden sich. Wir sind bereits seit zwölf Stunden unterwegs und über 30 Kilometer gelaufen. Ich schütte mir den Inhalt einer Halbliterflasche Apfelschorle in den Rachen.
    Die Suche nach einem Schlafplatz geht in seine heiße Phase. Wie Jäger auf der Pirsch beäugen wir unsere Umgebung und halten Ausschau nach einer Gelegenheit zum Pennen. Aber es ist wie verhext – Zäune und dornige Hecken begrenzen die wenigen Weiden und Wiesen. Das Gras steht hoch – ein idealer Nistplatz für Zecken. Felder treten bis an den Weg heran, kleine trostlose Fichtengruppen, die keinen geeigneten Waldessaum haben, ziehen an uns vorbei. So vergeht eine weitere halbe Stunde. Uns reicht’s – Deutschland bietet keinen Raum, jeder Quadratmeter ist genutzt, so scheint es, und man kann sich oft nur eindimensional auf den vorgegebenen Wegen fortbewegen.
    In meinen Gedärmen fängt es an zu rumoren. Mein lieber Mann, die Apfelschorle schlägt durch – habe sie viel zu schnell getrunken, dabei weiß ich doch, dass ich einen empfindlichen Magen habe. Der ersten Druckwelle folgt die zweite, und bei der dritten muss ich fluchtartig in die Büsche, lasse im Laufen den Rucksack fallen. Von Mücken umschwärmt, reiße ich mir fluchend die Hose runter, hocke mich hin und erleichtere mich mit einem Seufzer. Toilettenpapier habe ich übrigens immer in meiner Bauchtasche dabei. Angenehm ist so was nicht, aber wo kein Klo ist, herrscht trotzdem ein Bedürfnis.
    Mit flauem Magen geht die Suche weiter. Das zieht sich, die Füße tun weh und die Schultern sind verspannt. Wir laufen auf einen gröeren Wald zu, erreichen seinen Rand und marschieren ein Stück an ihm entlang. Folgen einem Feld, das sich in den Wald hinein streckt, und stoßen endlich auf ein passendes, schmales Rasenstück zwischen Feld und Waldrand. Geschafft – hier soll es sein!
    Erst mal Schuhe und Socken aus und Luft an die wunden Füße. Zwei dicke Blasen an Hacke und großem Zeh sind das Ergebnis des heutigen 35-Kilometer-Marsches. Außerdem sind die Füße rot und geschwollen, voller Druckstellen, und die Fußknochen schmerzen. Ich brauche eine Ewigkeit, um das alles zu verarzten. Erst nach acht Uhr habe ich meinen Schlafplatz hergerichtet und lasse mich nun auf meiner Schlafmatte nieder, um zum gemütlichen Teil überzugehen. Alles ist so arrangiert wie gestern. Die Rotweinflasche steht in einem Wanderschuh, die Brote liegen daneben auf dem Einwickelpapier. Ein erster tiefer Schluck aus der Pulle, ein Zug am Zigarillo – hach, es ist Feierabend, und es ist warm. Die Sonne steht hinter uns, und die Bäume werfen über uns weite Schatten in das Feld hinein, das etwa 100 Meter

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