Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
frühstücken. Eine weiße, weit überhängende Tischdecke wird aufgelegt, und die reichlich verzierten, schmiedeeisernen Stühle sind mit rosa Kissen gepolstert. Hungrig lassen wir uns nieder.
Hat jemand schon mal Gerbera und Freesien zum Frühstück serviert bekommen? Wir jedenfalls entscheiden uns dafür und erhalten ein opulentes Mahl, das zudem wie ein Kunstwerk angerichtet ist. Käse, Wurst, Schinken, Honigmelone, Kiwi, Erdbeeren, Weintrauben, eine halbe Birne mit Marmelade gefüllt, ein Stück rote Paprika mit Quark und Petersilie garniert, grüne Gurke, ein halber Pfirsich mit einer Himbeere, Tomaten, frischer Joghurt im Glas, ein gekochtes Ei, Körnerbrötchen, Butter und Kaffee satt und mittendrin eine Gerbera bzw. ein Zweig Freesien, unterlegt mit einem großen Efeublatt. Uns gehen die Augen über, das ist der absolute Hammer, und es ist keine Sinnestäuschung. So etwas habe ich noch nicht gesehen, geschweige denn gegessen. Nach einer Nacht und einem Marsch voller Entbehrungen werden wir wie Fürsten belohnt. Es scheint, als wache ein gütiger Engel über uns. Wir vertilgen alles und genießen unser Sein.
Frisch gestärkt und frohen Mutes verlassen wir das Städtchen, das übrigens, wie viele andere im Osten Deutschlands, in einem hervorragenden Zustand ist. Geschmackvoll renovierte Häuser, Straßen und Bürgersteige ohne Makel, Ensembles von Blumenkübel und frischgestrichenen Bänken, schmucke Plätze und Neubauten, die sich gut einpassen. So mancher Ort im Westen der Republik steht da hinten an. Kaum zu glauben, dass eine hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Beschäftigungsperspektiven immer noch den Osten kennzeichnen – Potemkinsche Dörfer also, hinter deren Fassade oftmals Perspektivlosigkeit herrscht.
Das erste Mal während unserer Wanderung folgt Ortschaft auf Ortschaft, unterbrochen von landwirtschaftlichen Flächen: Worbis, Braitenbach, die Kreisstadt Leinefelde, Birkungen. Nichts Aufregendes: sauber, aufgeräumt, guter Durchschnitt. Blaupausen vieler Orte, so dass nichts in Erinnerung bleibt, was erwähnenswert wäre. Erst am frühen Nachmittag gelangen wir wieder in die Verschwiegenheit der Wälder.
Es ist heiß geworden, und auf einer kleinen Lichtung in der Nähe eines Gutes suchen wir uns einen Rastplatz für die Mittagspause. Noch in Worbis haben wir uns mit frischem Wasser und Marschverpflegung versorgt, so dass wir entspannt pausieren können. Wir müssen unsere Isomatten, Kopfkissen und Schlafsäcke auspacken und in der Sonne trocknen lassen, da wir sie heute Morgen feucht eingepackt haben. Binnen weniger Sekunden habe ich den gesamten Inhalt meines Rucksacks über die kleine Lichtung verstreut, da der Schlafsack sich ganz unten befindet. Aber gut gelaunt schnappe ich mir meine Brötchen, ziehe mein T-Shirt aus und lege mich auf den ausgebreiteten Biwaksack in den Halbschatten. Die Schlafsäcke habe ich vorher über zusammengerollte, mit einer Folie eingewickelte Heuballen gelegt.
Mein Wanderbruder Martin ist beschäftigt. Eine dicke, fette, weiße Blase hat sich an seinem rechten Hacken gebildet. Während ich mein Mittagsmahl am Rande dieser herrlichen Lichtung genieße, prokelt Martin konzentriert und wortlos mit einer Nadel an seiner Blase herum. Er muss sie aufstechen, denn die Flüssigkeit muss raus, sonst entsteht beim Gehen ein immer schmerzhafterer Druck, der irgendwann unerträglich wird. Anschließend muss die Blase trocknen und abgeklebt werden. Bei mir geht so etwas immer mit Kommentaren vonstatten. Martin aber versinkt in seiner Beschäftigung, so dass außer dem Summen von Insekten, dem Zwitschern einzelner Vögel und hin und wieder einem sanften Rauschen des Blätterdachs tiefe Ruhe herrscht.
Es ist ein Sommertag auf dem Lande, heiß, doch kühl im Walde, schläfrig in der Hitze des freien Feldes und still und dämmrig im Forst. Schlaff dehnt sich der Tag und kommt auf dem Höhepunkt seiner Glut fast zum Stillstand. Ich spüre kein Verlangen nach irgendetwas und verliere das Zeitgefühl. Hier ist jetzt der Tag, bei mir und in mir, füllt mich aus und macht mich frei – ich lasse mich treiben und schlafe ein.
Martin weckt mich. Viel Zeit ist nicht vergangen, dennoch habe ich das Gefühl, dass ich ganz weit weg gewesen bin. Wir müssen weiter und packen unseren ganzen Kladderadatsch wieder ein, und ab geht’s.
Meine Lieblingsschirmmütze mit den Lüftungsnetzen an den Seiten, die mir meine Tochter am ersten Tag noch hinterhergebracht hat, ist weg. Entweder habe
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