Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
UNRUHIGE N ACHT
DONNERSTAG, 8. MAI
FORSTHAUS SEEGEL – WALD BEI BICKENRIEDE (SÜDL. EICHSFELD), 35 KM
Eine Weile schaue ich Martin zu. Unser Schlafplatz liegt im Schatten, die Wiese ist taunass. Fröstelnd und zerschlagen richte ich mich endlich auf und begrüße meinen Wanderbruder. Der Schlafsack ist von außen klamm, die Isomatte feucht. Widerwillig pelle ich mich aus dem Sack und stehe zunächst hilflos in langer Unterhose und Skiunterhemd auf meiner Matte, weiß nicht so recht, wie ich mich auf diesem nassen Rasen bewegen soll und was zuerst zu tun ist. Wenn wenigstens die Sonne Wärme spenden würde, aber das wird dauern. Der Wald hinter uns wirft weite Schatten, das Forsthaus weiter unten leuchtet bereits goldgelb. Es ist so kalt, dass ich meine Schlafklamotten anlasse, darüber eine Regenhose, ein Fleece und den Anorak ziehe, die nassen Socken wechsle und in die Stiefel schlüpfe. Ich gleite mit meinen Handinnenflächen über den Wiesentau und benetze mein Gesicht. Mehrere Male, bis meine Gesichtshaut spannt und ich spüre, dass ich wirklich wach bin und mich erfrischt fühle. Ein Schluck Wasser und ein Müsliriegel bilden das Frühstück. Nun noch kurz die Toilette neben dem Schlafplatz aufsuchen, Zähne putzen und die feuchten Sachen verstauen. Um kurz nach sieben sind wir auf der Piste.
Mein Job ist zunächst, uns bis Worbis zu navigieren, denn die eingeschlagene Route ist nicht geplant und somit auch nicht eingezeichnet. Wir laufen jetzt quasi nach Karte, allerdings mit dem immensen Vorteil, immer zu wissen, wo wir sind. Ich fühle mich relativ fit, auf jeden Fall nicht müde.
So früh unterwegs zu sein, hat was. Der Tag ist noch unverbraucht, und die Natur wirkt unberührt, ja fast jungfräulich. Der Gesang unzähliger Vögel begleitet unseren Gang. Er ist viel klarer, deutlicher und direkter als zu späterer Stunde und unterstreicht eindrucksvoll die Stille und Erhabenheit des Waldes. Schräg fallen Bündel glitzernder Strahlen durchs Geäst und zaubern abertausende Muster von Licht und Schatten auf den Waldboden. Die Luft ist kühl und kristallen, durchwoben von Wolken aromatischer Düfte, die dem Pflanzenteppich vom Grunde des Waldes entströmen – mal würzig, mal betörend und dann wieder rätselhaft. Der Weg ist wie eine Andacht – schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend und so gut wie nüchtern begehen wir sie. Mönchischer kann es nicht sein – ein Pilgergang, eine Fastenwanderung durch eine Stätte des Friedens.
Wir erreichen die Feldmark und treten aus dem Schatten in die lichte, sonnenbeschienene Flur. Über eine Stunde ist vergangen, und die Mägen fangen an zu knurren. Aber noch ist kein Land in Sicht, dafür wird uns warm. Schweiß fließt mir den Rücken hinunter und sammelt sich in der Poritze – ein gefährlicher Zustand, der ruckzuck zu einem Wolf führen kann. Ich muss mich umziehen und trocken reiben, außerdem ist dringend der Verzehr von Traubenzucker angesagt – ich spüre eine leichte Unterzuckerung.
In meinem Schädel haben nur noch Mettbrötchen mit Zwiebeln, ein Ei und frischer Kaffee Platz. Ich kann all das förmlich schmecken und riechen. Das Frühstück beherrscht meine Sinne, und im Gespräch mit Martin wird es immer üppiger.
Endlich erreichen wir Worbis, ein kleines, schmuckes Städtchen mit einer überschaubaren, frühmorgendlichen Geschäftigkeit. Jalousien werden hochgezogen, Stühle und Tische aufgestellt, Blumenkübel zurechtgerückt, Reklameschilder installiert. Ein Gemüsehändler baut kunstvoll vor seinem Laden die in Kisten verpackte Ware auf, einem Bäckerladen entströmt der warme Duft von frischem Brot, noch wenige Menschen sind unterwegs. Einer von ihnen weist uns den Weg zu einem paradiesischen Ort, einem Blumencafé mit dem exotischen Namen „FiorA“.
Flankiert von zwei großen Schaufenstern führt eine gläserne Tür in den Laden. Blumenkübel und kunstvoll beschnittene Buchsbäume in Töpfen stehen auf Absätzen vor den Fenstern und den Stufen der Treppe, die zur Tür führt. Im Innenraum hängt der schwere Duft von Blumen, aber nicht der von Kaffee. Am Tresen bindet eine Frau kunstvoll einen Strauß. Da hat uns wohl jemand einen bösen Streich gespielt, oder ein Vegetarier, der Brot und Tulpen frisst, hat uns hierher geschickt. Betreten schauen wir uns an und verlassen das Geschäft – nehmen kaum wahr, dass draußen jemand Tische und Stühle aufstellt. Vorsichtshalber frage ich dann doch nach und siehe da, man kann hier
Weitere Kostenlose Bücher