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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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Verwandlung meines mir gegenübersitzenden Wanderbruders in die heißblütige Zigeunerin aus dem Bild – das wär’s.
    Die Bereitschaft unserer lieben Bedienung zum Kochen haben wir uns teuer erkauft. Kaum habe ich mir den ersten Bissen in den Mund geschoben, nimmt sie wie selbstverständlich an unserem Tisch Platz, und los geht’s: Der Kiosk gehöre zum Wirtshaus, und sie betreibe ihn gegen Lohn, nicht auf eigene Rechnung. Viel werfe das nicht ab, aber immerhin. Das Malochen vorher, für wenig Geld in einer Bäckerei und einem Schuhgeschäft, hätte keine Perspektive gehabt.
    Zu DDR-Zeiten habe sie in einer Glasbläserei gearbeitet, neben ihr die Mutter, gegenüber der Vater. Eine knüppelharte Arbeit sei das gewesen – jeden Tag neun Stunden. Sie zeigt auf Kristallgläser, die in einer Vitrine stehen. Solche Kerben dort, die dem Kelch eine riffelige Struktur geben, habe sie gemacht – im Akkord, jeden Tag. Jedenfalls hätten sie und ihre Familie Arbeit gehabt. Heute müsse man schauen, wo man bleibe.
    Tja, wir hören uns das eher schweigend an. Was soll man auch dazu sagen. Jeder ist seines Glückes Schmied, aber nicht jeder Schmied hat Glück.
    Es ist genug – ein weiteres, deutsches Schicksal reiht sich ein in die auffällig vielen melancholischen Begegnungen mit eher resignierten Menschen während unserer Wanderung. Wir verabschieden uns freundlich von unserer netten und hilfsbereiten Bedienung, bedanken uns für die Mahlzeit und sinken gesättigt an Leib und Seele in unsere Betten.

V ON DER S CHÖNHEIT
DER N ATUR
    MONTAG, 12. MAI
NESSELBERGHAUS – SCHMÜCKE (THÜRINGER WALD), 29 KM
    Der Wirt kann uns keinen direkten Wanderweg zum Rennsteig nennen, obwohl mein Navi einige Möglichkeiten aufzeigt. Es gibt auch nirgendwo Hinweisschilder oder Wanderempfehlungen. Die einzige Möglichkeit, die der Wirt kennt, ist die Straße, auf der wir gekommen sind, zurückzulaufen. Das aber wäre ein gewaltiger Umweg, und dazu haben wir keine Lust. Gegenüber dem Nesselberghaus führt ein Pfad in den Wald. Die Richtung stimmt, laut GPS-Signal bewegen wir uns auf unseren Treck zu.
    Es geht zunächst bergab in eine Schlucht und ziemlich flott voran. Doch schon bald wird es immer unwegsamer, und dann stehen wir vor einer Rodungsfläche. So sehr wir auch suchen, der Weg ist weg. Kreuz und quer liegen gefällte Bäume zwischen den mit ihrem Wurzelwerk herausgerissenen Baumstümpfen. Die Erde ist aufgerissen, tiefe Löcher klaffen, wo vorher Bäume gestanden haben. Wir kämpfen uns an der Rodungskante den Hang hinauf, bereits am frühen Morgen durchgesuppt bis auf die Knochen. Die Stimmung meines Wanderbruders ist im Keller. Immer dann, wenn wir uns verlaufen, packt ihn die Panik.
    Am Ende gelangen wir doch auf einen Weg, der uns zurückführt, und stehen schließlich wieder dort, wo wir vor einer Stunde losgelaufen sind. Tja, nützt nichts – neuer Versuch. 20 Meter weiter führt ein anderer Pfad in den Wald hinein. Ich kann ihn auf meinem Navi orten. Diesmal schlägt der Weg einen weiten Bogen am Hang entlang, durch dichten Wald und über kleine, mit Farn und Moos bewachsene Lichtungen. Manchmal ist er kaum zu erkennen. Martin stapft schweigend hinter mir her. Einsam ist es und dunkel.
    Die Stimmung erinnert mich an eine Buchserie mit dem Obertitel „Im tiefen Forst“, die ich als Kind verschlungen habe. Die geheimnisvolle, einer Märchenwelt gleichenden Aura der tiefen Wälder in den Büchern hat mich fasziniert, und ich fand ihre Entsprechung in den hinter unserem Pfarrhaus sich erstreckenden riesigen Wäldern der Lüneburger Heide. Hier haben wir viel gespielt und uns manchmal weit vorgewagt, angetrieben von Neugier und dem prickelnden Schauder vor dem Unbekannten.
    Die Nähe zum Wald hat mich geprägt, und hier – nach so vielen Jahren – verspüre ich wieder diese sehnsuchtsvolle Erwartung, dass der Wald sich mir offenbare und seine uralten Geheimnisse preisgebe. Schon damals hatte ich manchmal das Gefühl, dass um mich herum ein Raunen und Wispern sei – wie in einer Märchenwelt: alte, verwitterte Bäume, die wie Trolle wirkten; Erdlöcher, in denen Zwerge wohnten; Felsblöcke hinter dichten, jungen Fichten, in denen Waldgeister hausten; bemooste Lichtungen, auf denen ich das schlafende Rotkäppchen oder den gläsernen Sarg von Schneewittchen erwartete. Eine surreale Welt, ein Ort, an dem sich Phantasien verwirklichten.
    Unter uns blinkt durch das Unterholz ein stiller, grüner Teich, in dessen smaragdener

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