Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Fußgängerzone fühlt, aber wir sind es nicht mehr gewohnt, alle halbe Stunde jemandem zu begegnen. Man grüßt sich – noch. Später am Tag und mehr in der Nähe von Rastplätzen, die an den durch den Thüringer Wald führenden Straßen liegen, hört das auf, weil zu viele unterwegs sind.
Wildfremde Menschen grüßen einander, wenn sie wandern und sich nur vereinzelt begegnen; nie, wenn sie in der Stadt in der anonymen Masse unterwegs sind; selten im stadtnahen Wald oder im Park. Warum ist das so? Mir fällt das auf!
Vielleicht steckt dahinter ein über Jahrtausende geprägtes Ritual, als der Mensch noch zu Fuß oder mit dem Pferd unterwegs war und Tage brauchte, um irgendwohin zu gelangen. Wenn man dann jemandem begegnete, dann war der Gruß ein Zeichen friedlicher Gesinnung. Man tauschte sich aus, brachte Wichtiges in Erfahrung, erhielt vielleicht sogar lebenswichtige Informationen. So ging das über eine Ewigkeit und hat sich tief in uns eingegraben. Auch Martin und ich haben auf unseren einsamen Strecken, wenn wir dann mal einem Menschen begegnet sind, nicht nur gegrüßt, sondern auch innegehalten und waren zu einem Plausch bereit, ebenso wie unser Gegenüber. Ein schönes Ritual, das wie selbstverständlich zelebriert wird, fast instinktiv abläuft, aber nur, wenn man weit weg von der Zivilisation ist.
Über dem Großen Inselsberg spannt sich ein azurblauer Himmel, und ein kühler Wind zerrt an den Sonnenschirmen des Ausflugslokals, das an der Südflanke des Berges liegt. Das Restaurant mit der Panoramaterrasse ist voller Ausflügler: Familien mit Kindern, Seniorengruppen und junge Paare. Mit unseren riesigen Rucksäcken sind wir Exoten, und ich spüre die Blicke der Menschen. Das Stimmengewirr mischt sich mit dem Brausen des Windes und verliert sich schon nach wenigen Metern. Zögernd entschließen wir uns zu einer Rast und kämpfen uns zu einem freien Tisch durch. Mit Schwung – auch um zu zeigen, wie dynamisch ich bin – befreie ich mich von meinem Rucksack. In einem schönen Abwärtsbogen gleitet er herunter und – zack – gegen die Tischkante. Fegt eine Tasse samt Unterteller vom Tisch und drückt ihn gegen die Rücklehne eines Stuhles, auf dem eine massige Frau sitzt. Das Geschirr zerschellt ohrenbetäubend auf dem Betonboden, während die Frau auf dem Stuhl ruckartig mit ihrem Oberkörper vor- und zurückschnellt. Einen Moment halten der Wind und das Gespräch der Leute inne, und alle Blicke ruhen auf mir. Was für ein peinlicher Auftritt! Schnell ducke ich mich in einen freien Stuhl und nestele, mich bückend, an meinen Schnürsenkeln herum, so lange, bis der Lärmpegel wieder seine ursprüngliche Lautstärke erreicht hat.
Weit kann man schauen – hinein ins Werratal und darüber hinaus in die ferne Rhön, die sich mit der Wasserkuppe am Horizont abzeichnet. Dörfer und kleine Städtchen liegen eingebettet zwischen den Hügeln und Bergen, auf deren Höhen weite Wälder ihr vielschichtiges Grün entfalten und zu deren Füßen sich die Wiesen und Äcker erstrecken, dazwischen, wie Edelsteine, das leuchtende Gelb der Rapsfelder.
Gestärkt und etwas verhaltener die Marschausrüstung wieder anlegend, verlassen wir das pfingstliche Treiben und gelangen nach und nach von der Raststätte in die Einsamkeit des Waldes zurück. Licht ist der Weg durch Buchen-, Ahorn- und Ulmenbestände, die eher selten die alles beherrschende Fichte im Thüringer Wald ersetzen. Hier oben, in über 800 Metern Höhe, ist das Blätterdach noch durchlässig und von jungem, hellem Grün, so dass Himmel und Sonne den Wald fluten können. Den Wind spüre ich nicht. Ich höre ihn toben in den Wipfeln der hohen Bäume. Dort, wo ich gehe, ist es ruhig – eine gläserne Stille, die im Raum zwischen den Bäumen schwebt und durch das Rauschen des Blätterdaches und das Singen der Vögel über mir noch verstärkt wird. Es ist, als schritte ich durch einen Äther, etwas Stofflichem, das nur aus dieser allumfassenden Ruhe besteht.
So wandern wir, noch einmal eine Straße mit einem Restaurant und zahlreichen Menschen querend, in ein Gebiet des Thüringer Waldes hinein, das über eine längere Strecke keine Zufahrt mehr besitzt. Schon bald reißt der Strom der Spaziergänger ab und verendet wie ein Wadi in der Wüste. Wir sind wieder allein und traben ganz für uns durch den endlosen Wald in die zweite Tageshälfte hinein. Auf einer abgelegenen Wiese strecken wir uns zur Mittagsruhe aus und dösen durch den Nachmittag, wechseln wenig
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