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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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auch über unsere Wanderung, und sein Interesse und Respekt sind ehrlich. Gerne würde er mit uns aufbrechen.
    Am Ende bedankt er sich für die anregende Unterhaltung und unsere Aufmerksamkeit, aufgewühlt und sichtlich berührt. Ich schieße noch ein Foto von ihm und seiner Frau und er eines von uns mit ihr. Dann schütteln wir einander die Hände und wenden uns ab. Noch einmal drehen Martin und ich uns um und winken den beiden zu.
    „Gott segne euren Weg“, ruft Albrecht hinterher.
    Das kam so von Herzen, dass ich tief bewegt diese gastfreundliche Familie verlasse und über die Wiese auf den Wald zuschreite.
    Wir steigen und steigen – hinauf auf den Rücken des Thüringer Waldes, der sich 150 Kilometer in südöstliche Richtung erstreckt, bis wir schließlich den Rennsteig erreichen, den Hauptwanderweg, der dem Kamm des Gebirges folgt. Ich schreite kraftvoll voran, spüre die Schritte nicht. Der Wald hat uns wieder, und seine charismatische Aura, sein Duft und seine Ruhe verleihen uns Flügel. Gelegentlich öffnet sich der grüne Vorhang links und rechts des Weges und lässt eine atemberaubende Aussicht über Wälder und Höhen in das weite Land zu. Friede legt sich auf unsere Seelen – wir sind weit, weit weg. Dieses Gefühl von Freiheit, vermittelt durch die scheinbar unbesiedelte, grenzenlose Weite, und das selbstbestimmte Sein machen mich jung und neugierig. Wohl spüre ich eine feine Sehnsucht nach meiner Frau und den Lieben zu Hause. Aber der Drang zu wandern, durch unbekannte Landschaften, Dörfer und Städtchen, treibt mich vorwärts und hat mich vollständig in seinen Bann gezogen.
    Was war der letzte Winter quälend. Bis in die Schlussphase der Vorbereitungen hinein und eigentlich auch zu Beginn der Wanderung hat mich ein Bandscheibenvorfall in Schach gehalten, Kopfschmerzen und leichte Depressionen gingen mit ihm einher. Wenn ich mich an so manchen Tagen morgens im Spiegel betrachtete, dann fühlte ich mich alt und grau. Wo war bloß die Spannkraft geblieben, die so viele Jahre das Altern zu einer Nebensächlichkeit gerinnen ließ! Jetzt schaute es mich an und zeigte mir den Stinkefinger. Ich hatte und habe meine Mühe mit dem Älterwerden, wobei dieser Prozess doch von Anbeginn stattfindet.
    Zunächst wird er stolz registriert. Man möchte so sein wie die Erwachsenen, so scheinbar unabhängig und selbstbestimmt. Ich freute mich über den Stimmbruch, über die Veränderungen meines Körpers, das Größerwerden, den zarten Bartansatz, und die erste Liebe brachte mich schier um den Verstand. Später dann – so zwischen zwanzig und dreißig – wird man sowieso nicht älter, und auch in den Dreißigern sind alte Menschen von einem anderen Stern. Dann gründet man eine Familie und ist vollständig beschäftigt mit ihr, mit dem Beruf, der Verantwortung und den Krisen. Man registriert den Haarausfall, den ersten unscheinbaren Tränensack, braucht eine Lesebrille, und irgendwann schauen die jungen Frauen sich nicht mehr nach einem um. Die Kinder ziehen aus, der Beruf wird anstrengender. Der Schatten der Vergangenheit ist riesig geworden, und irgendwann erblickst du das erste Mal den Horizont. So mancher verzagt und zieht sich zurück. Doch nur der ist ein König, der das Leben, egal wie alt er ist, als ein Geschenk annimmt, das es bis zur Neige auszukosten gilt.
    Jetzt, an diesem Morgen und auch schon immer wieder an den Tagen zuvor, ist nichts von dieser Melancholie geblieben. Ich fühle mich gesund und stark, lebensfroh und hungrig auf die Zukunft. Man ist immer so alt, wie man sich fühlt. Im Augenblick ist das die absolute Wahrheit. Wandern ist ein Gesund- und Jungbrunnen.
    Besonders abwechslungsreich ist der Rennsteig nicht, denn man geht größtenteils durch Wald, ohne den Blick in die Ferne richten zu können. Aber nach so vielen Tagen in der Natur schärft sich der Blick fürs Detail. Man nimmt eher die Veränderung im Charakter des Waldes wahr: die unterschiedlichen Stimmungen von Laub- und Nadelwald, die Vielfältigkeit des Waldbodenbewuchses, die kleinen, verwunschenen Lichtungen, den schmaler werdenden Weg, der einen plötzlich tief in den Forst führt, ein Bächlein, das einen eine Weile begleitet. Und plötzlich gibt er dich wieder frei, der Wald, und lässt deine Seele wie einen Adler über das tiefe Land unter dir schweben. All das summiert sich über die Zeit zu einem Einklang, bei dem es nichts mehr in Frage zu stellen gibt.
    Es sind Leute unterwegs. Nicht dass man sich wie in einer

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