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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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Landschaft. Solch einen grandiosen Rastplatz am Abend einer Etappe hatten wir bisher noch nicht.
    Martin schnappt sich seine Sachen und geht duschen. Ich kann mich nicht lösen, betrachte noch eine ganze Weile still und versonnen das ruhige Land, dessen erhabene Schönheit unantastbar scheint.
    Über Jahrmillionen hat sich diese wunderbare Landschaft geformt, ohne dass je ein Auge sie betrachtete und ihre Schönheit erkannte. Die Dinosaurier haben 160 Millionen Jahre die Erde beherrscht, und niemals saß einer von ihnen auf einem Berg, trank ein Bier und war beglückt von dem, was er sah, es sei denn, eine Dinodame oder ein fettes Beutetier gerieten in sein Blickfeld. Wir Menschen sind es, die einen emotionalen Bezug zur Natur entwickelt haben. Wir sind so angepasst, dass sie uns gefällt, und wir besingen ihre Schönheit in Liedern, beschreiben sie in Gedichten und verewigen sie in Bildern. Unser Bedürfnis zu wandern wird gespeist aus dieser einzigartigen Verbindung zwischen Mensch und Natur.
    Es beginnt zu dämmern, als ich mich auf den Weg in unser Zimmer mache. Die Eingangstür zum Schlafblock des Hotels ist mit einem Knauf versehen, der sich nicht drehen lässt – ohne Schlüssel kann die Tür nicht geöffnet werden. Den aber hat Martin, und der ist bereits auf dem Zimmer. Perplex stehe ich vor der Tür und bin ratlos. Niemand lässt sich blicken, ich weiß nicht mal mehr die Zimmernummer. Ich schnappe mir mein Handy und rufe meinen Wanderbruder an, doch der nimmt nicht ab. Wahrscheinlich steht er immer noch unter der Dusche und hört nichts. Ich gehe hinüber zum Restaurant, aber da ist niemand – tote Hose. Also zurück, vor die Tür gesetzt und immer wieder anrufen. Ich fange an, mich zu ärgern und in Selbstgesprächen die Ignoranz meines Kumpels zu verfluchen. Endlich erreiche ich ihn, und er kommt mir die Tür öffnen, schuldbewusst und zerknirscht ob seiner Gedankenlosigkeit.
    Nun, da ich drin bin, verfliegt mein Ärger schnell. Unser Zimmer befindet sich im ersten Stock, eines von vielen, die sich entlang eines schmalen Flures endlos links und rechts aneinanderreihen wie in einer Kaserne. Das Zimmer ist winzig, zwei getrennte Betten und eine Duschkabine, kaum Platz, um die Rucksäcke abzustellen. Über dem einzigen, einfach verglasten Fenster hängt schief ein Rollo, darunter eine uralte Rippenheizung. Als ich es herunterziehen will, kommt es mir krachend entgegen, ballert auf meine Nachttischlampe, die sich mit einem Knacken verabschiedet. So viel zur Unterkunft.
    In dem riesigen Speisesaal hocken sieben, acht Leutchen. Wir kommen uns gänzlich verloren vor, eine seltsame Atmosphäre des Niedergangs hat sich bis in die entlegensten Winkel ausgebreitet. Man flüstert eher, als dass man spricht. Sofort nach dem Essen verlassen wir den Raum und kehren der trostlosen Atmosphäre den Rücken zu.
    Lange noch liege ich wach und wälze mich auf der unbequemen Matratze hin und her, stopfe mir Ohropax als Bollwerk gegen die sägenden und blubbernden Schnarchgeräusche meines Wanderbruders in die Ohren und erwarte sehnlichst den Schlaf, der mich dann schließlich irgendwann erlöst.

S URREALE W ELTEN
    DIENSTAG, 13. MAI
SCHMÜCKE – SCHWALBENHAUPTWIESE (THÜRINGER WALD), 31 KM
    Guten Morgen, es geht mir nicht gut. Schlecht geschlafen, Rückenschmerzen, steife Glieder, Unlustgefühle. Heute sind wir zwei Wochen unterwegs, und ich habe schlechte Laune. Es ist das erste Mal bewölkt. Der Himmel ist diesig, die Luft drückt – es ist schwül. Mir ist nach einer Wanderpause, ich fühle mich ausgelaugt. An die 400 Kilometer sind wir jetzt gelaufen, und ich habe bald jeden Tag am Schluss der Etappe den Körper an seine Grenzen geführt. Martin kommt nach wie vor besser zurecht, aber er ist halt auch erheblich jünger. Ich muss mir das immer wieder vor Augen führen, um nicht frustriert an meiner Kondition zu zweifeln. Auch geht mir die Nähe zu ihm zwischenzeitlich doch auf die Nerven, obwohl es keinen offensichtlichen Anlass zu Beschwerden gibt. Es ist halt diese ständige Zweisamkeit, die die Atmosphäre zwischen uns auflädt und Macken überdeutlich werden lässt.
    So hat Martin heute Morgen bis auf eine alle fünf übrigen uns zugeteilten Portionen Marmelade vertilgt, drei waren für jeden vorgesehen.
    „Geh doch in die Küche und hol dir noch welche“, war seine Bemerkung.
    Ich habe ihn nur fassungslos angestarrt, aber meinen Ärger heruntergeschluckt.
    Außerdem saß er schon wieder eine halbe Stunde vor der

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