Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
verabredeten Weckzeit auf dem Rand seines Bettes und muckelte an seinen Klamotten herum. Wenn ich das mitkriege, kann ich mich einfach nicht mehr entspannen. So summiert sich eine Kleinigkeit zur anderen und zerrt an meinem Nervenkostüm. Martin ist da geduldiger oder auch dickfelliger. Vorgestern allerdings hat er sich beschwert. Während wir nebeneinander her wanderten, kaute ich ein Kaugummi. Nach einer Weile meldete er sich.
„Sag mal Wolfgang, ist das Kaugummi eigentlich noch frisch?“
„Wieso? Stört dich das?“
„Nein, aber du kaust schon so lange.“
„Ach so – dann geh doch vorweg. Dann hast du Ruhe.“
„Das hilft nicht. Ich hab’ ein absolutes Gehör. Ich hör’ das auch aus zehn Metern Entfernung.“
„Meine Güte, Martin, kau’ ich jetzt etwa in A-Dur oder was ist los?“
„Ist eben so, Wolfgang, kann’s auch nicht ändern.“
„Na gut, noch fünf Minuten, dann spucke ich es aus.“
Eine Weile marschierten wir schweigend weiter, und ich bemühte mich, den Mund beim Kauen geschlossen zu halten. Ich dachte an meine Frau, die es hasst, wenn ich in ihrer Nähe selbstvergessen, mit halb geöffnetem Mund ein Kaugummi bis zur Neige traktiere.
„Ich glaube, die fünf Minuten sind jetzt um, Wolfgang“, erinnerte mich Martin vorsichtig an mein Versprechen, und ich gab nach.
Solche Befindlichkeiten sind aber natürlich, schließlich können wir einander nicht ausweichen, und wenn dann noch Körper und Geist rebellieren, ist man halt besonders empfindlich. Im Alltag, zu Hause, ist es ja auch nicht anders.
Deshalb gehen wir heute zunächst auch jeder mehr für sich und sind sehr einsilbig miteinander. Dies ist ja unsere einzige Möglichkeit, ein wenig Abstand zu wahren.
Der Rennsteig kommt mir jetzt, am dritten Tag seiner Begehung, eintönig vor. Der Fichtenwald nimmt kein Ende, ständig laufen wir in der Nähe einer Straße, und Fernblicke gibt es auch nicht mehr. Es herrscht Wanderalltag, eine gewisse Routine und Gewöhnung machen sich ganz leise bemerkbar und schleichen sich wie Gift in mein Bewusstsein, fördern die aufkommende Melancholie. So trotte ich grüblerisch und mit mir beschäftigt in den Tag hinein und lasse diesen Gemütszustand jetzt einfach zu, mir bleibt eh nichts anderes übrig. Ablenken, wie zu Hause, geht hier nicht.
Irgendwann haben wir die Faxen dicke und entscheiden uns für eine Wegvariante. Wir wollen über den 944 Meter hohen Großen Finsterberg laufen und nehmen dafür auch einen Umweg und den Anstieg in Kauf. Ich persönlich brauche jetzt eine Herausforderung, um neue Energien zu mobilisieren, und vor allem Abwechslung, um mich abzulenken. Leichter gesagt als getan. Kurz vor dem Gipfel nämlich gehtes so steil bergan, dass ich zwischendurch Verschnaufpausen einlegen muss und still vor mich hin fluche. Der Rucksack hängt wie Blei an mir, und meine Beinmuskulatur schmerzt.
Gegen halb elf erreichen wir schließlich den Gipfel und steigen ohne Rucksack ziemlich ausgepumpt eine endlose Treppe zur hölzernen Aussichtsplattform hinauf, die ein gutes Stück über die Wipfel der Bäume hinausragt. Mir klappt der Unterkiefer herunter angesichts des grandiosen Panoramas, das sich vor uns ausbreitet. Wie im Himmel stehe ich und schaue hinab auf das weite Land, weiß gar nicht, in welche Richtung ich zuerst blicken soll. Es ist windstill und warm. Durch eine dünne, mit blassblauen Flecken durchsetzte Wolkendecke schimmert die Sonne. Nur im Westen durchschneidet ein stahlblauer Streifen Himmel die hohe Bewölkung. Kein Hauch, kein Laut, keine Bewegung, nur der Streifen am Horizont wächst auf uns zu. Ich bin beeindruckt und berauscht von so viel Schönheit und dem tiefen Frieden, der sich bis zum Rand der Welt auszubreiten scheint und auch mich erfasst.
Tja und da ist sie wieder, diese plötzliche, radikale Wandlung meiner Stimmung, die ich sonst so nicht kenne.
Es ist unglaublich, wie der Weg und die körperliche Konstitution sie steuern und die Landschaft meine Empfindungen beeinflusst. Fast wage ich zu behaupten, dass mein emotionaler Zustand, je länger ich unterwegs bin, in gewisser Weise ein Spiegelbild des Charakters der mich umgebenden Natur ist, als ob sie auf geheimnisvolle Weise eine Entsprechung ihres Wesens in meinem Gemüt erzwingt.
Wir gehen auf einem schmalen, gewundenen Pfad bergab durch einen Mischwald, der sich gänzlich von dem monotonen Fichteneinerlei unterscheidet. Wie gestern spüre ich eine tiefe Verbindung zu meiner Kindheit, zu den
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