Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Mythen und Märchen, die damals eine große Rolle für mich spielten. Wieder ist dieser Wald der Auslöser für eine Zwischenwelt, in der Realität und Phantasie sich mischen und ich wie damals die Sehnsucht nach einem Phasenübergang meiner Alltagswelt in die der Märchen und Sagen verspüre.
Tief in Gedanken und gefangen von dem Zauber des Waldes gehe ich für mich, ohne Martin überhaupt noch wahrzunehmen. Mein Leben lang begleiten mich solche Visionen bei Wanderungen durch verwunschene Landschaften, aber in dieser Intensität habe ich sie lange, lange nicht mehr verspürt. Es ist ein ganz privates, stilles Glück, das in mir aufwallt und mich überschwemmt, als ob das Wandern die Schlacke nach und nach löst, die sich in den vielen Jahren über diese Erinnerungen meiner Kindheit gelegt hat.
Als junger Mann habe ich versucht, derartig intensive Stimmungen mit dem Rauchen von Haschisch zu erzeugen, und in der Tat hat man, wenn man sich nicht total zudröhnt, für eine Weile einen veränderten Zugang zu allem, was man wahrnimmt. Eine Kaskade von Bildern überschwemmt das Bewusstsein, Bilder, die in der Realität so nicht existieren, aber dort ihren Ursprung nehmen. Die Sinne und Empfindungen sind derartig sensibilisiert, dass sie Dinge der realen Welt in Phantasmen verwandeln. Mit der Zeit geht dieser Effekt aber verloren, und das Rauchen macht einen dumpf und müde.
Einmal aber hatten meine Frau und ich ein Erlebnis der besonderen Art. Es war vor vielen Jahren, als wir uns erst kurz kannten und in der Wohngemeinschaft in Dahlenrode lebten. Von einem Physiker hatte ich zwei LSD-Pillen geschenkt bekommen, die ich im Kühlschrank für eine besondere Gelegenheit verwahrte. Das erste Mal war die Wirkung von je einer halben Pille grandios. Für Stunden schwebten wir durch eine weite, lichte Welt, die sich warm und lebendig anfühlte. Ein Spaziergang durch Wald und über Felder erschien uns ewig, und es war, als ob die Natur mit uns spräche. Wir waren hier und waren dort, obwohl wir den Weg nicht verließen. Büsche und Bäume wurden zu Lebewesen, und selbst die winzigsten Geräusche waren von einer Brillanz, dass man sie alle unterscheiden konnte und jedes Wispern und Rascheln registrierte – Angst hatten wir keine.
Auf diese Weise haben wir tatsächlich eine Märchenwelt betreten, die wir unter dem Einfluss der Droge für die Wirklichkeit hielten. Es gab nur noch sie und uns.
Einige Zeit später, wir waren allein, haben wir uns die zweite Pille geteilt. Es war früher Abend, und im Fernsehen lief einer der Western, die wir liebten. Zunächst war keine Wirkung zu spüren, auch am Ende des Films schien alles normal. Uns war nach Musik. Wir mochten beide den langsamen Satz aus Peter Tschaikowskys fünfter Sinfonie, der mit einem Hornsolo eingeleitet wird. Ich legte die Platte auf und setzte mich gegenüber meiner Frau auf einen Sessel, neben mir auf einem Hocker der Fernseher mit einer Zimmerantenne auf dem Gehäuse. Meine Frau lag langausgestreckt auf dem Sofa. Über ihr an der Wand rankte russischer Wein. Die beiden Wohnzimmerfenster waren ohne Vorhang, und es war bereits dunkel, nur zwei Kerzen erleuchteten schwach den Raum.
Die Musik erklang, ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Wieder war alles überdeutlich zu hören. Das Orchester spielte so klar und differenziert, dass ich auch in Tuttipassagen jedes Instrument wahrnahm, selbst das Schnarren der Kontrabassseiten konnte ich hören. Es störte mich, klang falsch und überdeckte die Musik. Immer hässlicher wurden die Töne einiger Instrumente. Die Melodie wurde von Zweit- und Drittstimmen überlagert, ich erkannte das Stück nicht mehr, außerdem war alles unerträglich laut. Ich öffnete die Augen und sah mit Entsetzen, wie der Wein an der Wand gegenüber sich bewegte und einzelne Ranken vorschossen und nach mir zu greifen suchten. Die ganze Wandfläche begann zu pulsieren, und immer mehr ineinander verschlungene Ranken, an denen die Weinblätter wie Hautfetzen hingen, wanden sich gleich knöchernen Tentakeln auf mich zu. Aus den Augenwinkeln sah ich plötzlich die Zimmerantenne in einem hellen Lichtkegel auf mich zusausen. Ich bückte mich instinktiv, um dem Zusammenprall auszuweichen. Wie ein Kometenschweif hielten sich für Sekunden die aneinandergereihten, sich überlappenden Standbilder der Antenne in der Luft, bevor sie nach vorn wegkippten und verschwanden. Die Musik lärmte und tat weh. Ich schaltete sie aus und setzte mich mit bangem
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