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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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den dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden und einem Restaurant in einer Prachtvilla. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dieses Ensemble von dem berühmten Baumeister Schinkel in seiner jetzigen Form geprägt und der Park als englischer Garten angelegt: schwarze Schwäne, Pfauen, seltene, alleinstehende Bäume und Baumgruppen, Teiche, großzügige, mit einem Teppich aus gelben Blumen überzogene Wiesenflächen, unterbrochen von Büschen und verschlungenen Wegen – eine natürliche Landschaft als Garten gestaltet, abwechslungsreich und weiträumig, wie ein Gemälde komponiert.
    Jetzt doch eher leichten Fußes durchschreiten wir den Park, erreichen die Feldmark und stehen plötzlich auf einer Brücke, die uns einen Blick in den geöffneten Leib der Erde gewährt. Eine schnurgerade, kilometerlange, hellbraune Trasse – von Baggern in den Boden gefräst – zieht sich durch Wiesen und Felder bis an die in einiger Entfernung liegende Hügelkette. Es ist, als habe man zwecks einer Sektion einen Körper vom Schlüssel- bis zum Darmbein mit einem Schnitt geöffnet. Die Wunde ist vielleicht zehn Meter tief. In ihr und an ihrem Rande wuseln wie Roboter Schaufelbagger, Transportlader und Planierwalzen. Drainageschläuche winden sich aus der Tiefe der Operationswunde über die Wundränder und verlieren sich in den Feldern. Hier wird die ICE-Strecke gebaut, die auch über die Brücke des Froschgrundsees führt. Ich habe nie zuvor Derartiges gesehen und bin fasziniert und geschockt von der Gegensätzlichkeit dieses Szenariums: Dieser gewaltige Riss, dieser Spalt, dieser Schnitt im Erdreich hat in keiner Weise einen Bezug zu der Landschaft; er ist eine Wunde, die als Vernarbung immer sichtbar bleiben wird. Und so, wie eine Narbe entstellen kann, wird auch hier für immer das Landschaftsbild grundlegend verändert sein.
    In Esbach, dem letzten Dörflein vor Coburg, hocke ich mich erschöpft in den Schatten einer großen Stallung. Vor dem heutigen Finale will ich mich noch ein wenig ausruhen und Kraft sammeln für die Pflastertreterei in die Stadt hinein. Martin erkundigt sich derweil nach dem Weg und nach einer Gaststätte – außer Powerriegeln und Traubenzucker haben wir nach dem Frühstück nichts Vernünftiges mehr zu uns genommen. Bei der Hitze lässt der Appetit allerdings auch zu wünschen übrig. Ich fühle mich seltsam schlaff und klebrig. Eine salzige Suppe wäre nicht schlecht.
    Martin kehrt zurück, und während wir aufbrechen, beschreibt er mir den Weg zu Schneewittchen: Wir sollen dieser Straße eine ganze Weile folgen, bis an ihrem Ende zwei Gasthäuser auftauchen, eines links und das andere rechts der Straße, auf unserer Seite liegend. In das Letztere sollen wir unbedingt einkehren. Es gehöre Schneewittchen.
    Wir wissen nicht so recht, was wir davon halten sollen, sind aber gespannt, was uns erwartet. Bestimmt eine zauberhafte Frau. Und das ist allemal ein Grund, vorbeizuschauen und ein wenig zu schäkern.
    Der Bürgersteig entlang der Straße zieht und zieht sich, reflektiert die Hitze und macht uns das Wandern schwer. Endlich tauchen die beiden Gasthöfe auf, und wir betreten Schneewittchens Reich, einen verwunschenen Garten mit einigen Tischen und Stühlen, heckenumrahmt. Unter einem alten, gekappten Ahorn steht eine weiße Bank, ein Spiegel lehnt an einem Baumstamm, in einem Tonkübel wächst ein üppiger Busch mit weißen Blüten, und mitten auf dem mit weißen Gänseblümchen übersäten Rasen ragt eine Skulptur aus Marmor.
    Auf den etwa einen Meter hohen Sockel, einem Knaben, eingehüllt in einen steinernen Umhang, ist eine Schale platziert, die von dem Kopf des Knaben und der Hand seines linken Armes gehalten wird. Daraus ragt ein schlanker Hals, auf dem ein zartes Köpfchen mit einem elfengleichen Antlitz ruht. Nur ein angedeutetes Lächeln formt der Mund mit den vollen Lippen. Eine feingeschwungene Stupsnase erhebt sich keck über der ausgeprägten Rinne zwischen Oberlippe und Nasensteg. Der träumerische Blick ist verschleiert. Blätter und Trauben aus grauweißem Marmor formen die kunstvolle Frisur, und eine echte, rotblühende Geranie mit dichtem Blättergrün bildet den Kopfschmuck.
    Hat man Schneewittchen enthauptet und hier ausgestellt – und deshalb der Name des Restaurants? Unsicher schauen wir uns um. Ein einziger Gast, ein beleibter, älterer Herr, sitzt mit dem Rücken zu uns an einem der Tische, trinkt Bier und löffelt Eis aus einem Glasbecher.
    Dann schwebt Schneewittchen in einem weißen

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