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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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eine oder andere Mittelchen, von dem ich überzeugt bin, dass ich es nicht benötige. Es ist erstaunlich, mit wie wenig man auskommen kann.
    Anschließend sind wir mit einer kleinen Bahn zur Veste Coburg hinauf und haben uns über zwei Stunden dort oben aufgehalten. Sie ist eine der größten Burganlagen Deutschlands und zudem die am besten erhaltene. Wenn man das mächtige Tor der Burgmauer durchschreitet, gelangt man in einen bezaubernden Innenhof mit Bäumen und Büschen, Rasenflächen und Blumenrabatten, eine eigene Welt, durch Mauern und Burganlagen von der Außenwelt abgeschottet.
    Martin und ich sind völlig unvorbereitet in die Burg hinein. Die Vielfalt der Zimmer und Sammlungen hat uns schier erschlagen: Bilder u. a. von Albrecht Dürer, Tilman Riemenschneider, Lucas Cranach dem Älteren, darunter ein berühmtes Porträt von Martin Luther, der hier einige Monate Zuflucht vor Verfolgung suchte – das Zimmer nebst Mobiliar ist erhalten. Die bedeutendste Glassammlung Europas sowie unzählige Kunstwerke aus Keramik, Zinn und Porzellan werden in Vitrinen zur Schau gestellt. Darüber hinaus gibt es ein einzigartiges, kunstvoll und filigran arrangiertes Intarsienzimmer mit Jagdszenen und eine riesige historische Waffensammlung. Ich wusste gar nicht, dass bereits im 16. Jahrhundert Vorläufer der Stalinorgeln existierten – Artilleriegeschosse auf Rädern mit 21 Schusskanälen.
    Jeder Raum, jede Etage – und es gibt reichlich davon – bietet ein anderes Szenarium, und am Ende ist der Blick so müde, dass er gar nicht mehr wahrnimmt, auf was er fällt. So viel an Ausstellung, an Kultur und Kunst mute ich mir selten zu. Ich gehe in den Städten lieber unters Volk und in die Biergärten, aber heute genieße ich das Schlendern durch die Räume in meinen wunderbar weichen Sandalen. Zum Schluss noch ein Spaziergang auf der ausladenden Burgmauer mit weiten Blicken über Coburg, dorthin, wo wir hergekommen sind.
    Den Nachmittag verbringe ich im Hotelzimmer, immer wieder schlafend und im „Spiegel“ blätternd. Zwischendurch hocke ich mich mit einem Stuhl vor die Dusche und bade meine Füße in einer mit einem besonderen Pulver versetzten Lauge, rasiere mich das erste Mal mit einem Einwegrasierer, massiere meine Waden und Oberschenkel mit Latschenkieferessenz und wasche meine Socken, das Hemd, die Unterhose und meine Shorts, alles, was ich beim Wandern am Leib trage. Die Aktion ist wahrlich nötig, denn die Klamotten müffeln inzwischen penetrant ranzig.
    Ich spüre, wie mein Körper sich entspannt und erholt, wie Trägheit auch meine Seele erfasst und sie ruhen lässt. Durch das einzige schräge Dachfenster fällt sanftes Licht auf das alte Mobiliar, und der gedämpfte Straßenlärm mischt sich mit dem Schilpen der Spatzen. Ich komme mir vor wie der arme Poet auf dem berühmten Bild von Spitzweg – nur eine Glotze, die hatte er nicht.
    17 erfüllte, aber auch immer wieder strapaziöse Tage und 480 Kilometer liegen hinter uns. Ich bin an meine Grenzen gelangt und auch über sie hinausgegangen, habe vom Wesen des Wanderns gekostet und bin noch lange nicht satt. Der Weg hat mich gefangen genommen und lässt mich nicht mehr los, hält meine Sehnsucht nach meiner Familie in Schach. Im Vordergrund steht nicht mehr, dass ich durch Deutschland laufe. Ich bin einfach unterwegs, lebe den Tag und bin an seinem Abend neugierig auf den darauf folgenden.
    Am späten Nachmittag treffe ich mich wieder mit Martin, und wir schlendern durch die Altstadt. In der evangelischen St. Moritzkirche setzen wir uns in das Gestühl und lauschen einem Cembalospieler, der im Altarraum für ein Konzert probt. Der Fluss der barocken Musik, die stille Erhabenheit, die zeitlose Atmosphäre des Raumes und das Zwielicht führen mich fort, hinaus aus der Stadt, hinaus aus der Welt. Eine allumfassende Gelassenheit durchdringt mich, eine Ruhe, die sich mit wohliger Schlaffheit und Müdigkeit paart und eine seltsame Weltabgewandtheit erzeugt. So lange habe ich seit den Tagen meiner Kindheit und Jugend nicht mehr in einer Kirche gesessen, zumal außer uns dreien niemand anwesend ist. Vielleicht noch Gott, aber da bin ich mir nicht so sicher.
    Entspannt und ruhig kehren wir zurück in die Welt und verbringen einen fröhlichen Abend miteinander. Sprechen viel über Musik und ihre unglaubliche Wirkung. Nach diesem Ruhetag bin ich wieder aufnahmefähig für Martins musiktheoretische Erläuterungen.
    „Eine neapolitanische Akkordverschiebung ist in einer

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