Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
einfachen Kadenz die Subdominante des vorangehenden Mollakkordes mit erhöhter Sexte und der vierten Stufe als Basston. Er eignet sich auch gut für chromatische Modulationen, da er ohne den Kadenzzusammenhang einer Umkehrung eines Durdreiklangs über der kleinen Sekunde des Tonikagrundtons entspricht“, haut er mir um die Ohren.
Alle Klarheiten beseitigt? Für den Moment habe ich es tatsächlich verstanden, aber es klingt doch sehr theoretisch. Musik mache ich eher aus dem Bauch heraus, so dass die formalen Zusammenhänge dieser Akkordverschiebung, die ich sicherlich des Öfteren intuitiv anwende, bald wieder in Vergessenheit geraten werden.
Bei Regen verlassen wir das italienische Restaurant, in dem wir den Abend verbracht haben, und dieser wundervolle und überfällige Heilund Genesungstag neigt sich dem Ende zu.
Ruhet wohl ihr Lieben, daheim und sonstwo auf der Welt;
Über Licht und Schatten – mit dem letzten Wimpernschlag –
Schon bald ein köstlich Dunkel fällt.
D ER G AMASCHENMANN
SAMSTAG, 17. MAI
COBURG – SCHESSLITZ (NORDRAND FRÄNKISCHE ALB), 30 KM
Gestern Abend haben wir uns entschieden, heute von Lichtenfels aus zu starten – circa 18 Kilometer südöstlich von Coburg, da unsere ursprünglich geplante Route eigentlich etwa acht Kilometer östlich an Coburg vorbeiführt. Ein wenig länger ist die Strecke mit der Bahn bis Lichtenfels schon, aber nicht übermäßig, so dass wir kein schlechtes Gewissen haben müssen.
Der Kellerwicht von gestern serviert uns das eher schlichte Frühstück – im selben Outfit und mit der gleichen Leichenbittermiene – mürrisch und einsilbig wie am Vortag. Ich hingegen fühle mich wie neugeboren, ausgeruht und ausgeschlafen, freue mich auf die zweite Etappe. Der Zug bringt uns nach Lichtenfels, und mit einem scheinbar federleichten Rucksack auf dem Rücken starte ich in den Morgen.
Lichtenfels war einst die Blüte der Korbmanufaktur in Deutschland und nannte sich nach dem Ersten Weltkrieg „Deutsche Korbstadt“. Noch heute existieren hier die einzige Fachschule Deutschlands für Korbflechterei und das Innovations- und Designzentrum des Deutschen Flechthandwerks.
An der katholischen Kirche machen wir kurz Halt und schauen hinein. Still und düster ist es in ihrem Inneren. Manchmal liegt etwas Zwiespältiges und Hinterhältiges in den Fresken und Abbildungen, und der kalte Geruch von Weihrauch, feuchtkühlem Moder und die tonlose Stille schaffen eine morbide und abweisende Aura. Mich fröstelt. An diesem Morgen ist mir nicht nach Kirche und Drohungen auf ewige Verdammnis.
Auf direktem Wege verlassen wir die Stadt. Es hat am Morgen heftig geregnet. Jetzt brennt die Sonne auf die nassen Wiesen und Felder. Nebel steigt auf. Es ist schwül.
Wir haben nicht den richtigen Ausstieg aus Lichtenfels gefunden und müssen uns nun über Wiesen mit hohem, nassem Gras unseren Weg bahnen. Bremsen machen uns das Leben schwer. Manche erwischen wir, und ihr Blut vermengt sich mit der Feuchtigkeit auf unserer Haut und sickert in hellroten Schlieren die Beine hinab. Die Luft ist subtropisch und geil an diesem lebensschwangeren Frühlingstag. Wie besoffen taumeln in ihr abertausende Insekten – saugend, stechend und sich vereinigend.
Wenig später gelangen wir in den Schatten eines nahen Laubwaldes, und mit einem Schlag fällt das Getreibe und Gewusel und all das Städtische und Laute von uns ab. Feucht, kühl und still ist es hier, aber anders als zuvor in der Kirche. Es ist immer wieder der Wald, dieser tiefe, unberührte Wald, der eine Kraft besitzt, die einen magisch anzieht. Er ist niemals langweilig an jenen Orten, wo er ungehemmt vom Menschen sich entfalten kann. Es sind die unendlichen Variationen der erwachenden Natur, die mit ihrer archaischen Schönheit einem den Atem rauben, wenn sich im Frühling das Leben zum Licht hin streckt, durch die Wärme, der Schwester des Lichts, erst zum Leben erweckt wird und in Düften, Formen und Farben sich verstofflicht.
Licht und Schatten tanzen umeinander, und wo die Strahlen der Sonne auf die weißblühenden Bärlauchmatten fallen, leuchten sie auf wie Schnee, daraus die graubraunen Stämme der Bäume wie Säulen in den Himmel ragen. Wie im Oderwald, im Hainich, im Thüringer Wald und jetzt hier: Es ist nie ein Déjà-vu, es ist immer anders und immer neu.
Froh und heiter durchstreife ich den Wald, gelange an seinen Saum – an den Rand eines Abhanges, der den Blick ins Land freigibt. Dort am Fuße des Hanges erhebt sich
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