Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
diesem treibenden Rhythmus, fällt schwer, und es ist eine Kunst, sich ihr hinzugeben. Wir leiden unter ihrer Abwesenheit, und wenn sie dann frei Haus geliefert wird, in der Lebensspanne ohne Arbeit, können wir mit ihr nichts mehr anfangen, weil sie uns fremd geworden ist.
Muße ist eine Atempause, ein Sich-treiben-Lassen, ohne sich planvoll zu beschäftigen – Gedanken zu haben, ohne zu denken, dem Treiben zuzuschauen, ohne sich antreiben zu lassen, und dabei keine Langeweile zu verspüren.
Genau das fühle ich gerade. Der Wochenrhythmus spielt keine Rolle mehr, und was für ein Wochentag gerade ist, ist nicht von Bedeutung. Wir wandern an jedem Tag, und Pausen machen wir, wenn uns danach ist, und nicht, wenn uns das Wochenende sie vorschreibt. Irgendwann müssen wir weiter, aber nicht gleich und auch nicht sofort. Es treibt uns kein Termin, und es erwartet uns niemand. Wir gehen, wann wir wollen. Es ist ein Rhythmus, der vom eigenen Körper oder der freien Entscheidung bestimmt und nicht von außen vorgegeben wird. Anders als im Urlaub, denn wir haben ja jeden Tag unser Tun. Unsere Arbeit ist das Laufen.
Wir wandern durch ein schmales, langgestrecktes Tal, nun ständig der Sonne ausgesetzt. Dann und wann streifen wir den Rand kleiner, verschlafener Dörfer – anders als in Thüringen wirken sie mit ihren vielen, kuscheligen Fachwerkbauten heimelig und einladend.
Die Hitze nimmt zu, und im gleichen Maße wächst mein körperlicher Verfall. Die letzte Nacht hat mir den Rest gegeben, heute werde ich mich nicht mehr erholen. Allein der Gedanke an die morgige Auszeit hält mich aufrecht, selbst der schönste Blick über Täler und Höhen würde jetzt seine Wirkung verfehlen. Ich stelle fest, dass das Wandern irgendwann dann doch an körperliche Grenzen stößt, die unüberwindbar sind, es sei denn, man befindet sich auf der Flucht oder will einen bekloppten Rekord erzielen.
Vor uns auf einer Bank sitzt ein Mann. Vielleicht 60 Jahre alt, stämmig und untersetzt, mit einer Bierwampe, bekleidet mit Unterhemd, Shorts, Socken und Sandalen – des deutschen Rentners Freizeitdress. In der einen Hand hält er den gebogenen Griff eines Schirms, mit dessen Metallspitze er Muster in den Sand zeichnet.
„Wo kommt ihr denn her?“, spricht er uns an.
„Aus Schalkau“, antwortet Martin.
„Was macht ihr denn in Schalkau?“, fragt er weiter.
„Wir sind von Lüneburg bis hierher gewandert“, klären wir ihn auf.
„Oh Mann, Donnerwetter, früher war ich auch so fit. Da habe ich Sport getrieben. Meine Güte, damals wär’ ich glatt mitgelaufen“, hebt er an und hört nicht mehr auf:
„Hundert Liegestützen am Tag habe ich gemacht. Danach Kniebeugen auf einem Bein. Bin gelaufen, gesprungen und habe Gewichte gehoben. Dabei sind mir irgendwann die Sehnen gerissen, und ein künstliches Hüftgelenk hab’ ich auch.“
Dann zeigt er seine Narben. Uns reicht‘s.
„Alles Gute dann“, und nichts wie weiter.
„Hat’s bei euch heute Nacht auch so gewittert?“, stoppt er unseren Abgang.
„Hier hat’s gekracht und geschauert.“
Wir stehen da wie der Azubi in Loriots Film „Pappa ante Portas“, nur dass wir keine bis zum Kinn gestapelten Aktenordner vor uns her tragen. Uns machen die Hitze, der Schweiß, der Rucksack, Blasen und die Müdigkeit zu schaffen. Schon setzt unser redseliger Rentner zum nächsten Satz an, aber Martin unterbricht ihn barsch – auch er hat die Schnauze voll und wir ziehen von dannen.
Inzwischen ist es High Noon und brütend heiß. Meine Füße sind geschwollen und drücken gegen das Innenleder. Bei mehr als 25 Grad wird die Schutzmembrane Goretex zu einer Schwitzmembrane. Am liebsten würde ich mir die Stiefel und Socken von den Füßen reißen und barfuß weiterlaufen.
Durchhalten, Wolfgang, durchhalten – bald ist es geschafft, Coburg und ein freier Tag warten!
Wir durchwandern das Dorf Unterwohlsbach – hügelaufwärts. Oben angekommen, schauen wir über eine Wiese, ein Rapsfeld und dahinter auf einer Höhe – noch weit entfernt, aber gut zu sehen – die Veste Coburg, das Wahrzeichen der gleichnamigen Stadt, das uns nun ständig begleitet und meine Stimmung in den grünen Bereich zurückführt. Die Vorfreude auf ein kühles Bier, eine warme Mahlzeit, ein Bett und vor allem einen Tag ohne körperliche Anstrengungen wirkt wie Doping und beflügelt meine Schritte.
Plötzlich ändert sich das Landschaftsbild. Wir befinden uns in der Rosenau, einem großen Park mit einem Schloss,
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