Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
Vom Netzwerk:
Kittel heran, mutiert zu einer alten Frau mit grauen Haaren und einem schiefen Lächeln, das die Zahnlücken preisgibt.
    „Na, meine Herren?“, begrüßt sie uns freundlich, mit Augen, aus denen der Schalk blitzt.
    Für einen Moment bin ich richtig enttäuscht. Hat uns der Typ vorhin verarscht, ist Schneewittchen nur ein Spitzname, oder ist tatsächlich die Skulptur der Grund für diese Bezeichnung?
    Über die gesamte Mittagspause rätseln wir über die Bedeutung des Namens. Endlich, beim Abschied, fasse ich mir ein Herz und frage unsere Bedienung direkt und unverblümt: „Sagen Sie mal, sind Sie Schneewittchen?“
    Erst schaut sie mich ungläubig an, und dann schüttelt sie sich vor Lachen. „Wie kommen Sie denn darauf, und woher wissen Sie davon?“
    „Tja, der Ruf eilt Ihnen voraus, man hat uns davon erzählt.“
    Sie kann’s nicht glauben, gluckert und gluckst vor Vergnügen. „Meine Herren, ich bin nicht Schneewittchen, wie Sie sich wohl denken können. Schneewittchen liegt im Krankenhaus, ich bin die Vertretung, tut mir leid für Sie.“
    „Schade – jammer –, jammerschade!“
    Aber das denke ich nur und frage auch nicht weiter nach. Lachend geben wir uns zum Abschied die Hand. Im Weggehen streift mein Blick den einzigen Gast außer uns. Er sitzt immer noch abgewandt auf der Kante seines Stuhles, und die mächtige Wölbung der oberen Pobacken und ein gehöriger Teil seine Kimme leuchten zwischen T-Shirt und den verrutschten Shorts wie ein gespaltener, rosa Kürbis.
    Der endlose Marsch in das Herz der Stadt Coburg bringt mich schier um den Verstand. So krüppelig und abgehalftert habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Die stinkende Schwüle der verkehrsreichen Einfallsstraße atmend, eingepfercht in Häuserschluchten, quäle ich mich in das Zentrum.
    Endlich, endlich ist es geschafft – wir stehen vor einem Hotel in der Innenstadt.
    Ein kleiner, düsterer Flur empfängt uns. Aus der geöffneten Kellertür müffelt es modrig und kühl. Dem Dunkel entsteigt ein dünnes Männlein, wankt schlurfenden Schrittes die Treppe empor. Gewaltige, faltige Tränensäcke hängen an den schattigen Augenringen. Die Gesichtshaut ist grau und fleckig, und die wenigen, grauen Haare bedecken, in Strähnen seitwärts gekämmt, unzureichend seine Kopfhaut. Es scheint bald so, als seien wir auf einen Kellergeist gestoßen, der dort unten lebt und seinen dunklen Geschäften nachgeht, nur ab und an, eher unwillig, emportaucht, um ein wenig Energie zu tanken. Doch er spricht wie ein Mensch, zwar lustlos und leise, aber immerhin, er spricht. Zwei Zimmer bietet er uns unter den Dachschrägen an. Wir nehmen sie unbesehen und steigen hinauf. Auf den Treppenabsätzen lagern ausrangierte Bildschirme, alte, übereinander gestapelte Möbel, Nähmaschinen und allerlei mehr – abgestellt wie in einer Rumpelkammer.
    Die Zimmer haben den Charme von Fremdenzimmern, in die man ausrangierte Möbel gestellt hat. Mir ist alles wurscht, ich hab’ ein Bett mit einer Latexmatratze, ein Zimmer für mich, und das Ganze kostet stolze 48 Euro pro Tag, womit wir unser Tagesbudget bereits um drei Euro überschritten haben.
    Schon nach zwei Weißbieren auf dem Marktplatz von Coburg bin ich duhn und nach der Pizza so geschafft, dass schon am frühen Abend das Bett lockt und ich gerne der Verlockung nachgebe. Mit den ätzenden Halbschuhen an meinen Füßen – morgen werden sie entsorgt – watschele ich neben meinem Wanderbruder zum Hotel zurück und schlafe mit dem wunderbaren Gedanken ein, morgen ausruhen zu dürfen.

E RSTER R UHETAG
    FREITAG, 16. MAI
COBURG
    Coburg ist eine gemütliche, schmucke, oberfränkische Stadt, deren großer, von wunderbar restaurierten Gebäuden umgebener Marktplatz den zentralen Anziehungspunkt bildet. Hier wacht Herzog Albert von Sachsen, Coburg und Gotha als steinernes Denkmal über die Geschicke der Menschen, die in den zahlreichen Cafés und Restaurants rings um den Platz verweilen oder geschäftig über ihn hineilen. Auch wir sitzen hier und lassen es uns bei einem Eis, Kaffee und Kuchen gut gehen.
    Zuvor habe ich mir jedoch leichte Trekkingsandalen gekauft und meine flachen Schuhe im wahrsten Sinne des Wortes in die Tonne gekloppt. Dann habe ich den Rucksack um 1,4 Kilo Gepäck erleichtert und die aussortierten Sachen nach Hause geschickt: die Mundorgel, den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse, die Brotdose, eine kurze Hose, ein langärmeliges Hemd, einen Schreibblock, das kleine Fotostativ, ein T-Shirt und das

Weitere Kostenlose Bücher