Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
wo die Grenze der Anpassungsfähigkeit des Menschen eigentlich liegt.
Noch zwei Kilometer bis Weißenbrunn. Es wird Zeit, dass wir frühstücken. Aber dann kommt es, wie es kommen muss. Der einzige Gasthof hat geschlossen – niemand reagiert auf unser Klingeln und Klopfen. Mit knurrendem Magen ziehen wir frustriert durch das menschenleere Dorf. Steil bergan geht’s. Es gibt eine Kirche, eine alte, schmucke Schule – heute ein Museum – , ein paar Häuser und eine Bushaltestelle mit einer Bank, auf der wir uns niederlassen und überlegen, wie wir unser Frühstück organisieren sollen. Der nächste größere Ort liegt vor Coburg, und bis dahin sind wir verhungert, es sei denn, wir stopfen uns unsere Notration in den Mund und kauen auf der zähen, klebrigen Masse herum, bis der Hunger von der Pampe vertrieben wird. Nützt ja nichts. Wir entscheiden uns für Essen in Raten: Jetzt einen Proteinriegel und ein Schluck Wasser, und im nächsten vier Kilometer entfernten Dorf wird neu entschieden.
Müde und mit rumpeligem Magen geht’s zurück, an der Gaststätte vorbei zum Ortsausgang.
„Martin, ich schau’ nochmal, ob jetzt jemand da ist“, rufe ich und laufe zurück, drücke die Türklinke – die Tür öffnet sich.
Eine steile, ausgetretene Stiege führt in den ersten Stock, aus dem das Klappern von Geschirr zu vernehmen ist. Ich steige die Treppe hinauf und lande in der Küche. Eine Frau sitzt an einem uralten Holztisch, schält Kartoffeln. Auf dem Herd köchelt eine Mahlzeit, deren Duft ich kaum widerstehen kann. Ich beginne mich zu erklären, und während ich noch bei der Einleitung bin, unterbricht sie mich:
„Was willst? Hast Hunger?“
„Ja, hab’ ich“, und das Eis ist gebrochen.
Wir bekommen im Garten ein fürstliches Frühstück mit Hausmacherwurst, Käse, Ei, Tomaten, selbstgemachter Marmelade und frischem Brot serviert. Mann, was fühle ich mich plötzlich gut – dieser Morgen hier unter der Kastanie ist wie ein Geschenk, und ich genieße es in vollen Zügen.
Erholt und gesättigt laufen wir entlang eines Baches in den Tag hinein, die Kopfschmerzen sind verflogen. Die Sonne steigt höher und höher und brennt erbarmungslos auf uns herab, saugt die Energie und das Wasser aus unserem Körper und lässt schon bald die Glieder wieder bleischwer werden.
Vor uns liegt eine Wiese mit einer Bank und einem schattenspendenden Baum an ihrem Rand. Eine gute Gelegenheit, unsere nassen Klamotten zu trocknen und uns dabei auszuruhen. Unterlegmatte, Poncho, Schlafsack, Anorak, Kopfkissen, Socken – nahezu der gesamte Inhalt des Rucksacks landet auf dem Gras, und was feucht ist, wird ausgebreitet. Mein lieber Mann, was sind die Sachen durch die Nässe schwer geworden – die gefühlten 20 Kilogramm Gewicht kommen nicht von ungefähr.
Wir hocken uns auf die Bank und warten, schauen in die ruhige, hügelige Landschaft: zu unseren Füßen die mit Hahnenfuß und Pusteblumen übersäte Wiese, am Himmel über dem sanften, bewaldeten Höhenzug an ihrem Ende weiße Quellwolken und links, in einiger Entfernung, die ersten Häuser eines Dorfes. Ich sitze schweigsam neben meinem Wanderbruder, schaue in die Wolken, die wie Vexierbilder die unterschiedlichsten Figuren formen, betrachte das geschäftige Treiben der Hummeln und Bienen an den Blüten oder lausche einfach nur dem Rauschen des Baches hinter mir. Ohne mein Zutun kommen und gehen die Gedanken, mir wird ganz leicht, und gleichzeitig fühle ich mich träge. Es ist Sommer, und wir haben Teil an seinem schläfrigen Rhythmus, wechseln wenig Worte, sitzen einfach da und haben Muße.
Sie ist ein seltenes Gut in meinem Leben. Zu Hause bin ich ständig beschäftigt, fühle mich getrieben, werkele, wenn ich nicht arbeite, im Garten, spiele Klavier, lese, schreibe, schalte den Fernseher an, walke oder treffe mich mit Freunden, weiß immer, wie spät es ist und welchen Tag wir haben. Dagegen ist nichts zu sagen, aber einfach Dasitzen und Schauen fällt mir schwer, und nun tue ich es, und es nichts dabei.
Der Ablauf einer Woche strukturiert zu Hause unseren Alltag und beschleunigt sich, je länger wir diesem Schema folgen. Es ist wie bei einem Pendel, das einmal angestoßen wird und dann in immer kleineren Ausschlägen dieselbe, aber jeweils um diesen Faktor gestauchte Strecke durchmisst. Und weil alles so ähnlich und vollgestopft ist, können wir uns schon bald nicht mehr erinnern, was vor einer Woche oder einem Monat zu welcher Zeit geschah. Muße zu finden in
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