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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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eingeschlafen.
    Hart und wunderbar zugleich ist das Wandern, egal, welchen Weg du gehst. Es fordert dich bis über deine Grenzen hinaus und gibt dir dabei so viel zurück. Es führt dich aus dem Alltag, hinaus aus der Welt, aus der du kommst und in die du zurückkehren wirst, in eine Zwischenwelt, und verschafft dir dabei einen Bonus, einen Zuschlag an Zeit und Leben.

D EUTSCHLAND FINDET
DRINNEN STATT
    SONNTAG, 18. MAI
SCHESSLITZ – BEI HEILIGENSTADT
NORDRAND FRÄNKISCHE SCHWEIZ), 27 KM
    Heute ist es kühl und bedeckt. Das erste Mal auf unserer Wanderung müssen wir mit schlechtem Wetter rechnen. Immerhin habe ich gut geschlafen. Der Rücken macht keine Probleme, aber unter der Hornhaut der linken Ferse spannt und pocht es verdächtig. Mal sehen, was sich da entwickelt.
    Scheßlitz gleicht einer Geisterstadt. Wir sind nahezu allein unterwegs an diesem Morgen. Liegt es am Wetter, dass mir der Ort so kahl und öde vorkommt? Eine lange, baumlose Straße, abblätternder Putz an den Hausfassaden, leerstehende, zum Teil verfallene Wohnungen und Geschäfte. Und dann – vor einer heruntergekommenen Hütte mit einer mit Eternit verkleideten, hässlichen Hausfassade – ein Baum. Fast scheint es, als ob er sich schäme, hier zu stehen.
    Das einzige, was mich entzückt, ist eine verunkrautete Wiese mit prächtigen Akeleien.
    Hinter dem verlassenen Städtchen geht es unermüdlich bergauf zur Ruine Giechenburg, vorbei an aus hohen Baumstämmen geschnitzten und bemalten Figuren, die wie Totempfähle anmuten. Auf einer Wiesenmatte – überzogen mit einem gelbweißen Teppich aus blühendem Löwenzahn und Pusteblumen – ein einsamer, alter Grabstein. Der schmale Pfad führt direkt daran vorbei, wieder hinein in dunkelgrüne Laubwälder. Man hat den Eindruck, durch einen Park zu gehen, der vor langer, langer Zeit angelegt worden ist und nun schon seit Menschengedenken sein eigenes, unabhängiges Leben führt – so unberührt und still liegt er da.
    Diese Landschaft hat eine suggestive Kraft und berührt mich mit ihrem mystischen und geheimnisvollen Charakter, mit ihrer eigenartigen, aber irgendwie doch schönen Stimmung.
    Auf einem Hügel erreichen wir eine Kapelle, die wie geschaffen ist für diese traumverlorene Gegend. Durch einen in den Felsen gehauenen, verwunschenen Gang gelangen wir über eine Wendeltreppe in das von Tageslicht durchflutete Hauptschiff, an dessen Rückseite eine breite, steinerne Treppe hinunter auf ein Stück Rasen führt. Vereinzelte Grabmale zeugen von einer längst versunkenen Epoche. Dahinter – auf dem gegenüberliegenden Hügel – erhebt sich vor dem blassgrauen Himmel die Ruine Giechenburg. Es ist still, nur der Wind geht durch das Laub. Schwermut liegt über dem Land. Der Tanz ist vorbei, die Menschen sind gegangen. Was bleibt, sind die Grabmale als stumme Zeugen ihrer Vergänglichkeit.
    Wir verlassen den Gügel, so der Name der Wallfahrtskirche, und machen gegen Mittag eine kurze Rast in einem trostlosen Dorf. Sitzen dort am Rande eines geteerten Platzes auf einer Bank vor einem Feuerwehrgerätehaus, völlig allein bis auf einige Katzen und Hunde, die durch das Dorf streunen. Warum nur ist es so still und verloren in den Ortschaften, als wenn alle Lebensfreude sich davongemacht hätte. Deutschland findet drinnen statt – dieses Eindruckes kann man sich wirklich nicht erwehren.
    Doch dann tut sich was. Aus einer Tür neben dem Feuerwehrhaus tritt ein rotgesichtiger, schmerbäuchiger Mittfünfziger in Trainingshose, Turnschuhen und einem blauen T-Shirt mit dem Logo der Feuerwehr darauf. Er trägt ein Gestell mit leeren Bierflaschen, betritt das Gerätehaus und kehrt wenig später mit einer vollen Trage zurück. Schon verschwindet er wieder hinter der Tür, aus der er gekommen ist. Sonntagmittag in einem abgelegenen fränkischen Dorf: die freiwillige Feuerwehr bei der vorletzten Runde des Frühschoppens, während die Frauen zu Hause mit dem Essen in der Röhre auf die Männer warten.
    Gegenüber, auf dem Dach eines roten Fords, räkelt sich eine Katze. Ein Huhn stolziert über den Asphalt, und ein Windstoß treibt eine Staubwolke über den verlassenen Platz.
    Der einsame, in der sonntäglichen Ruhe dahindämmernde Flecken erinnert mich an abseits gelegene Bergdörfer, die in der nachmittäglichen Hitze Griechenlands den Atem anhalten. Die Fensterläden sind verschlossen, die Rollläden vor den wenigen Geschäften heruntergelassen, und der Wind treibt Staub, vertrocknetes Laub und Plastikbeutel

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